Sonntag, 03. Mai 2015
Ungeduldig wartete Rin vor dem großen Gebäude des Hauptbahnhofes, während ihr Blick durch die Menschenmenge schweifte. Auch Skye war an ihrer Seite, welcher ein wenig genervt wirkte.
„Hatte der Zug Verspätung?“, sah der Kleinere zur Blauhaarigen hinauf. „Nein, auf der Anzeigetafel stand, dass er pünktlich sei“, kratzte sich das Mädchen ratlos am Hinterkopf, „Mein Handy ist blöderweise auch tot.“ „Ich verstehe einfach nicht warum du das Smartphone von Kuro nicht annimmst“, rollte der Schwarz-Blauhaarige mit den Augen. Nun riss auch dem Mädchen so langsam der Geduldsfaden: „Wie oft willst du mich deswegen noch nerven? Habe ich dir nicht erklärt warum ich es nicht möchte?“ „Deine Gründe sind nicht unbedingt sinnvoll, aber grundsätzlich weiß ich, dass es nicht allein dein Dickkopf ist, der dem im Weg steht“, merkte er an.
Die Blauhaarige hingegen ignorierte diese Aussage und setzte sich in Bewegung: „Komm wir suchen ihn. Vielleicht hat er sich ja verlaufen.“ „Verlaufen“, folgte Skye ihr, „Wie kann man sich bei so vielen Schildern verlaufen und den Hauptausgang aus dem Gebäude nicht finden?“ „Frag nicht, such lieber“, stapfte die Oberschülerin ins Bahnhofsgebäude und sah sich um.
Es war ein recht großes Gebäude mit drei Stockwerken, auf welchen die verschiedensten Geschäfte waren.
Nach einer Weile des Suchens schienen die beiden es schließlich aufgegeben zu haben und sanken erschöpft auf einer Bank nieder.
„Fang ja nicht wieder mit der Telefongeschichte an“, mahnte Rin nur. „Hättest du ein gescheites, wären wir nicht in dieser Lage“, murrte der Kleinere.
Kurz überlegten die beiden was sie nun tun sollten. Sie könnten zur Information gehen und Gesuchten ausrufen lassen. Allerdings war das keine Garantie dafür, dass dieser auch bei der Information aufkreuzen würde. Immerhin war er ja auch nicht zum verabredeten Ort gekommen. Wenn sie Pech hatten, dann war er vielleicht gar nicht da, weil er den Zug verpasst hatte oder etwas anderes dazwischenkam. Aber das würden sie leider nicht erfahren, bevor das Mobiltelefon der Stipendiatin wieder angehen würde.
Ratlos starrten die beiden vor sich hin und beobachteten die hektische und laute Atmosphäre. Hier und da rannten Menschen zu ihren Gleisen. Manche auch telefonierend. Mütter mit ihren Kindern gingen einkaufen, Touristen sahen sich aufgeregt um und auch Schüler gingen fröhlich vorbei und genossen ihr Wochenende.
Obwohl die beiden Rastenden sich an die laute Umgebung gewöhnt hatten, schreckten sie kurz auf, als sich plötzlich ein junger Mann lautstark telefonierend auf die benachbarte Bank niederließ: „Hiro hilf mir! Ich habe mich schon wieder verlaufen!“ Er machte eine kurze Pause, ehe er seinem Gesprächspartner erneut antwortete: „Wo ich bin? Ich weiß nicht genau. Hoffentlich in Aehara.“
Ein wenig selbstzufrieden grinste Rin ihren kleinen Begleiter an, bevor sie sich erhob: „Siehst du. Er hat sich verlaufen.“
Ungläubig sah Skye zu, wie sich die Oberschülerin auf den Telefonierenden zubewegte. Er wirkte zwar mit seinen violett-blauen schulterlangen Haaren ein wenig feminin, war jedoch als Kerl zu erkennen.
„Shû-chan!“, riss die Blauhaarige ihren Kindheitsfreund ins Hier und Jetzt zurück, „Wo warst du die ganze Zeit?“
Irritiert sah der junge Mann zu ihr auf, als sich schlagartig sein Ausdruck zu einem breiten fröhlichen Grinsen formte.
„Rinacchi! Da bist du ja!“, sprang er auf und sprach erneut ins Telefon, „Vergiss es Hiro, ich bin gerettet.“
Ohne eine Antwort abzuwarten hatte er das Telefonat bereits beendet und seine alte Freundin aus Kindertagen umarmt.
„Kann es sein, dass du von Mal zu Mal orientierungsloser wirst?“, löste Rin die Umarmung wieder. „Ich war eben einfach schon lange nicht mehr hier“, zuckte Angesprochener mit den Schultern. „Ich würde es nicht als orientierungslos bezeichnen“, gesellte sich nun auch Skye dazu, „Eher als blind. Wir saßen eine Bank weiter und du hast nichts bemerkt.“ „Wer bist denn du?“, sah der Violett-Blauhaarige zu dem kleinen Jungen herunter. Dieser antwortete prompt: „Ich bin Skye.“ „Nur Skye? Kein Nachname?“, hakte der Ältere nach, „Mein Name ist übrigens Shuya Nagase.“ „Ja, ich weiß. Du bist der pinke Sandkastenfreund von Rin“, erwiderte der Grundschüler unbeeindruckt. Erneut kamen bei dem Orientierungslosen Fragen auf: „Pink?“ „Er hat alte Kinderfotos mit deiner natürlichen Haarfarbe gesehen. Schlussendlich wurde er neugierig und wollte dich kennenlernen“, winkte die Blauhaarige ab, „Aber lasst uns doch losgehen. Ich will endlich aus diesem Bahnhof raus.“ Leichtes Entsetzen konnte man aus Shuyas Blick lesen: „Warum zeigst du diese Fotos herum?! Das ist doch ein Geheimnis!“
Schulterzuckend entschuldigte sich das Mädchen flüchtig. Für sie war es nichts Neues und sie fand auch nichts Verwerfliches daran, dass seine Haare eigentlich einen Rosaton hatten. Jedenfalls verstand sie nicht warum er mittlerweile ein Geheimnis daraus machte. Damals interessierte es ihn doch auch nicht.
„Du bist bestimmt erschöpft von der Fahrt. Wollen wir in ein Café gehen?“, schlug die Oberschülerin vor. Kurz überlegte der junge Mann: „Eigentlich habe ich keine Lust noch mehr rumzusitzen. Lass uns was machen. Wir könnten ins Sportzentrum gehen oder in den Park. Außerdem würde ich gerne noch ein paar Leute besuchen.“ „Soll mir recht sein. Mir ist gerade auch eher nach Bewegung zumute“, war die Blauhaarige seiner Meinung.
Auf dem Weg zum Sportzentrum hatten die beiden Älteren einiges zu bereden, während Skye nur wortlos nebenherlief. Schlussendlich hakte der Violett-Blauhaarige aber nochmal nach: „Sag mal Skye, wer bist du denn nun eigentlich?“ „Geht es wieder um meinen Nachnamen?“, fragte er nach, „Ich heiße Skye Suzuki.“ „Bist du etwa mit diesen reichen Leuten verwandt? Aber was machst du dann hier?“, verstand Shuya immer weniger. „Ich bin eben mit Rin befreundet. Sie arbeitet ja auch für den Erben“, erklärte der Schwarz-Blauhaarige.
Nur die Hälfte verstehend nickte der Ältere und gab sich vorerst mit dieser Antwort zufrieden.
Der Tag verflog recht schnell und sie hatten viel Spaß. Selbst Skye legte für einen Moment seine ernste Seite ab und konnte sich richtig amüsieren. Schlussendlich verabschiedete er sich aber und ließ die Kindheitsfreunde alleine.
„Hey Shû-chan, willst du mal mein Wohnheim sehen?“, war Rin voller Begeisterung, „Dir werden die Augen aus dem Kopf fallen, wenn du das siehst. Das ist wie eines dieser überteuerten Hotels. Nur besser.“ „Klar warum nicht“, grinste der junge Mann, „Ich habe noch etwas Zeit bis mein Zug fährt.“
Gesagt, getan standen die beiden wenig später in der prunkvollen Eingangshalle des Oberschulwohnheimes. Der Violett-Blauhaarige staunte tatsächlich nicht schlecht, als er die Einrichtung sah: „Wow, selbst bei meinen Großeltern ist das bei weitem nicht so übertrieben protzig wie hier.“ „Ich sag ja, dass es krass ist“, grinste das Mädchen, „Warte kurz, dann melde ich dich an und wir können hochgehen.“
Mit diesen Worten eilte Rin zur Rezeption. Der junge Mann hingegen schlenderte durch den Eingangsbereich und schaute sich weiterhin um. In den Sesseln und Sofas an den Seiten der Halle, hatten sich hier und da kleine Lerngruppen gebildet, die eifrig für die Examen büffelten. Trotz allem konnte Shuya beim Vorbeigehen einige unschöne Wortfetzen aufschnappen.
Eine kleine Gruppe Mädchen zerriss sich nämlich das Maul: „Sie ist schon wieder so stillos gekleidet.“ „Ja, das sieht aus wie aus der Altkleidertonne. Wir sollten ihr mal Manieren beibringen.“ „Ich verstehe nicht wie es jemand derartiges an unsere Schule geschafft hat.“ „Wir sollten uns schnellsten darum kümmern, dass sie endlich verschwindet.“
Gekicher brach in der Kleingruppe aus. Aber auch andere Schüler tuschelten und blickten auffällig zur blauhaarigen Außenseiterin. Sie selbst schien es nicht mal zu bemerken, dafür aber ihr Freund. Die gute Laune des jungen Mannes verflog daraufhin schlagartig und er ballte die Fäuste. Am liebsten hätte er Rins Mitschülern die Leviten gelesen, wie er es auch früher schon oft getan hatte. Allerdings wusste er genau, dass er damit niemandem half, sondern eher das Feuer entfachte. Wäre er immer präsent, um weiter gegen zu wirken, dann wäre das etwas anderes. Aber er wohnte weiter weg und konnte nicht mal eben Gerechtigkeit walten lassen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als vorerst die Ruhe zu bewahren.
„Ich habe dich angemeldet. Wir können hochgehen“, kam Rin freudig auf ihn zugelaufen. Angesprochener nickte nur und setzte sich mit ihr in Bewegung.
Im Zimmer angekommen, staunte Shuya auch dort nicht schlecht: „Das ist ja riesig! Ganz ehrlich, das ist doch kein Wohnheim! Das ist eher… Ich weiß es nicht… Platzverschwendung!“ „Ja, ich habe auch ziemlich dumm geschaut, als ich den Laden hier zum ersten Mal betreten hatte“, erklärte das Mädchen ganz aufgeregt, „Das ist krass oder? Im Bad sind sogar zwei Waschbecken. Weiß der Geier wofür.“
Daraufhin musste sie lachen, weil das Ganze einfach immer noch so unwirklich klang. Der Violett-Blauhaarige hingegen huschte von A nach B und kam gar nicht aus dem Staunen.
Schlussendlich hatte er alles angesehen und ließ sich in der kleinen Sitzecke nieder. Rin tat es ihm gleich und gesellte sich dazu.
„Darf ich dich was fragen?“, wurde der junge Mann wieder etwas ernster. „Klar“, nickte die Stipendiatin neugierig. „Geht es dir hier gut?“, brachte er vorsichtig hervor. Etwas irritiert gab das Mädchen Antwort: „Ja klar geht’s mir hier gut. Ich wohne umsonst in diesem riesigen Zimmer und ich gehe umsonst auf eine Elite Oberschule.“ „Du hast mich falsch verstanden“, schüttelte Shuya den Kopf, „Ich rede nicht von gesparten Kosten oder irgendwelchem Prunk. Mich interessiert, ob du dich hier wohlfühlst.“ „Ich weiß nicht genau was du meinst, aber ich habe keine Probleme oder so. Abgesehen vom Lernstoff vielleicht“, legte Rin den Kopf schief und schaute ihren Gesprächspartner verwirrt an. „Das freut mich“, sprang der Violett-Blauhaarige grinsend vom Sofa auf und streckte sich. Das Mädchen hingegen verstand den Inhalt der Frage noch immer nicht so ganz. Aber da sie scheinbar beantwortet war, konnte es ihr ja auch egal sein.
„Und? Hast du an der neuen Schule schon Freunde gefunden?“, wollte ihr Kumpel wissen. „Oh, du wirst lachen“, schmunzelte Rin, „Ich habe mich mit einer Klassenkameradin angefreundet, von der alle behaupten, dass wir uns superähnlich sehen. Und dann ist sie auch noch die Schülersprecherin.“ „Das ist wirklich eine überraschende Geschichte“, lachte der junge Mann. Rin nickte: „Sie geht noch weiter. Ruri wohnt nämlich auch im Wohnheim. Direkt neben meinem Zimmer.“ Erneut musste Shuya grinsen: „Das ist ja fast schon ein bisschen Schicksal.“ „Ja, es ist wirklich total witzig“, grinste die Blauhaarige breit, „Sie ist superlieb und hat mir schon oft geholfen.“ „Das freut mich zu hören“, lächelte der Ältere.
Noch eine Weile plauderten sie über dieses und jenes, als so langsam der Abend heranbrach und der Violett-Blauhaarige aufbrechen musste.
„Ich mache mich dann mal auf den Weg, sonst verpasse ich noch den Zug“, erhob sich der junge Mann zu Gehen. Auch das Mädchen stand auf: „Ich bringe dich noch zum Bahnhof. Du verläufst dich ja doch wieder.“ „Nein, es wird später dunkel sein, wenn du wieder zum Wohnheim zurückfährst. Dabei würde ich mich unwohl fühlen. Außerdem habe ich einige Jahre in dieser Stadt gewohnt. Ich werde mich schon nicht verirren“, gab er selbstsicher von sich.
Die Blauhaarige war zwar dennoch in Sorge, weil sie ihren Kindheitsfreund nur zu gut kannte, gab sich aber dann doch geschlagen. Diskutieren brachte da eh nichts.
„Dann mach‘s mal gut“, drückte Shuya das Mädchen vor dem Wohnheim nochmal kurz, „Wenn irgendetwas sein sollte, dann melde dich ruhig.“ „Mach ich“, nickte die Blauhaarige. „Übrigens habe ich beschlossen, dass wir uns in Zukunft häufiger sehen oder sprechen sollten“, stellte er sie frech grinsend vor vollendete Tatsachen, „Also sieh zu, dass dein Handy funktioniert. Sonst suchen wir wieder Ewigkeiten nacheinander.“ „Wärst du nicht so orientierungslos, wäre das gar nicht erst passiert“, lachte Rin, „Aber ich freue mich schon auf unser nächstes Treffen.“
Damit verabschiedeten sich die beiden voneinander und kaum hatte sich der junge Mann zum Gehen abgewendet, vernahm Rin eine vertraute Stimme: „I am thou. Thou art I.“
Suchend sah sie sich nach dem dazugehörigen blauen Schmetterling um, welcher ihr zeigte mit wem sie einen neuen Link geschlossen hatte. Wie zu erwarten war es natürlich ihr Sandkastenfreund Shuya selbst.
Als die Oberschülerin wieder in ihrem Zimmer war, setzte sie sofort ihr Horo auf, um herauszufinden welche der Arcanas ihrem Kumpel zugeordnet wurde. Es war die „VIII. Justice“ Arcana.
„Die Gerechtigkeit also?“, grübelte das Mädchen, „Er hatte ja eigentlich schon immer einen gut ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.“
Ein Klopfen an Rins Tür, riss sie aus ihren Gedanken und verwundert darüber wer da sein könnte, öffnete sie.
Keine geringere als Ruri stand vor ihr. Sie hatte einen kleinen Papierstapel in der Hand und grüßte ihre Klassenkameradin: „Hallo Rin. Ich wollte dir nur schnell einige wichtige Stichpunkte vorbeibringen, bevor ich aufbreche.“ „Oh hallo. D-Danke“, fühlte sich die Blauhaarige etwas überrumpelt. „Geh das was ich dir notiert habe am besten nochmal genaustens durch, dann solltest du für die Prüfungen gewappnet sein“, hielt die Schülersprecherin ihr freundlich lächelnd den Papierhaufen hin. „Das ist ja lieb von dir. Dankeschön“, nahm die Stipendiatin die Notizen entgegen, „Aber du hättest dir doch nicht solche Mühen machen brauchen.“ „Ach, mir tut es einfach leid, dass ich dir nicht mehr beim Lernen helfen konnte über die Golden Week“, machte sich die Eisblauhaarige wirklich Sorgen. Irritiert schaute Rin ihr Gegenüber an: „Eh? Habe ich etwas verpasst? Die Golden Week hat doch noch ein paar Tage, oder? Abgesehen davon ist es ja trotz allem mein Problem. Aber ich bin dir natürlich mehr als dankbar. Dafür lade ich dich mal auf ein Eis oder so ein.“ „Ja, die freien Tage sind noch nicht vorüber, aber ich werde für ein paar Tage nach Hause fahren und bin somit nicht da“, erklärte sich Ruri, „Am Mittwoch bin ich wieder hier. Wenn du magst, können wir abends ja nochmal gemeinsam in die Bücher schauen.“ Verstehend nickte die Blauhaarige: „Ach so ist das. Wenn es dir keine Umstände bereitet, nehme ich dein Angebot gerne an.“ „Das macht schon keine Umstände“, lächelte die Eisblauhaarige sanft, „Immerhin muss ich ja für die gleiche Prüfung lernen.“ „Das ist wirklich lieb, danke“, bedankte sich Rin, „Dann wünsche ich dir eine gute Reise und viel Spaß zu Hause.“ „Das werde ich haben, danke“, verabschiedete sich die Schülersprecherin und machte sich sogleich auch auf den Weg.
Derweil war Shuya auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Das dachte er jedenfalls, bis er schließlich einsah, dass er sich verlaufen hatte. Eigentlich wollte er zur Shiroshi Central Station, um mit der U-Bahn Ring-Linie zum Hauptbahnhof zu gelangen. Allerdings schien es, als sei er irgendwo falsch abgebogen.
„Wieso ist hier ein Fluss? Der war doch vorhin noch nicht auf dem Weg, oder?“, sah sich der Violett-Blauhaarige um.
Was sollte er jetzt bloß machen? Würde er Rin anrufen, so würde sie ihn totsicher bis zum Ziel begleiten, damit er auch ja im richtigen Zug sitzt. Dann würde sie am Ende aber allein durch die Dunkelheit laufen. Das wollte er garantiert nicht. Abgesehen davon war es sowieso fragwürdig, ob er sie erreichen würde.
Nachdenklich zückte er sein Handy und starrte den Bildschirm an. Dann öffnete er die Karten-App, um herauszufinden wo er war und wo er hinwollte. Nach mehrfachem Drehen und Zoomen, gab er es schließlich auf und wählte eine Telefonnummer.
„Hiro hilf mir…“, jammerte der Violett-Blauhaarige verzweifelt in sein Smartphone, als Angerufener abnahm. „Hast du dich schon wieder verlaufen?“, ertönte eine männliche Stimme aus dem Hörer. „Ja~“, quengelte der junge Mann. Angerufener stöhnte laut: „Ich kann nicht zu dir kommen, wenn du noch immer in Aehara bist.“ „Ich weiß, aber was soll ich denn machen?“, flehte der Hilflose. „Schick mir mal deinen Standort, dann schaue ich mal nach. Am besten den Livestandort“, forderte sein Kumpel.
Kaum hatte er danach gefragt, sendete Shuya ihm die angeforderten Daten. Da es ihm zu lange dauerte bis sein Kumpel eine Antwort auf den richtigen Weg parat hatte, setzte er sich derweil ins Gras an das Flussufer und sah dem Sonnenuntergang zu.
Nach guten fünf Minuten bekam er dann endlich eine hilfreiche Rückmeldung „Du bist in die komplett falsche Richtung gelaufen. Die U-Bahn war in die andere Richtung. Aber du kannst die Straßenbahn nehmen. Da ist ganz in der Nähe eine Haltestelle. Ich weiß nur nicht wann die nächste fährt.“ „Das wird schon passen. Navigier mich bitte hin“, war der junge Mann noch immer quengelig.
Kaum hatte er dies gefordert, wurde er schnurstracks dorthin geleitet: „Jetzt rechts.“ „Okay“ „Das andere rechts!“ „Ups…“ „Und dann zweimal links.“ „Ich glaub ich sehe sie!“ „Na Gott sei Dank. Kommst du nun alleine klar?“, schnaubte sein Navigator. „Denke schon, danke“, grinste Shuya verlegen. „Du schuldest mir was“, hörte man ein Murren. „Ja ja, wie immer“, winkte der junge Mann ab.
Endlich kam die Straßenbahn am Hauptbahnhof an. Da sie weit mehr Stationen hatte als die U-Bahn, dauerte es mit dieser auch länger. Zum Glück hatte Shuya etwas mehr Zeit eingeplant, und nun nicht mehr ganz 10 Minuten, bis der Fernzug abfahren würde. Trotz allem eine knappe Geschichte, wenn man bedachte, dass der junge Mann noch das richtige Gleis finden musste.
Eilig rannte er ins Bahnhofsgebäude, versuchte die Anzeigetafel zu entziffern und rannte zum Gleis. Kaum war er an diesem angekommen, stellte er fest, dass er eigentlich auf den gegenüberlegenden Bahnsteig musste und rannte wieder zurück.
In letzter Minute schaffte er es außer Atem in den Zug zu springen. Kaum war er drinnen, verschlossen sich schon die Türen und er ließ sich völlig aus der Puste auf den nächstbesten Platz sinken. „Geschafft“, schnaubte er schwer und schloss kurz die Augen, um seinen Puls wieder herunterzutreiben.
Sekunden später öffnete er seine Lieder wieder und zuckte zusammen: „R-Rinacchi?!“
Völlig von der Rolle starrte er die Person an, die ihm in der Vierersitzgruppe, gegenübersaß und in einem Buch las. Sein überraschter Ausruf ließ das Mädchen kurz aufschauen. Sie musterte ihn irritiert und überlegte kurz: „Kennst du Rin?“
Noch immer irritiert starrte er die Schülerin nieder: „Bist du diese Ruri? Du siehst ja wirklich aus wie Rin.“ „Oh, dann kennst du sie also?“, lächelte die Eisblauhaarige freundlich. „Und ihr seid wirklich nicht verwandt?“, stand Shuya noch immer die Kinnlade offen. „Nein, sind wir nicht. Das haben wir schon beredet“, erklärte das Mädchen, „Ich heiße übrigens Ruri Miuna und wer bist du?“ „Ach herrje“, kratze sich der junge Mann verlegen am Hinterkopf, „Ich bin echt unhöflich. Mein Name ist Shuya Nagase. Rinacchi ist meine Sandkastenfreundin, daher kenne ich sie.“ „Ah, dann hast du sie also besucht?“, verstand die Schülersprecherin. Ihr Gegenüber nickte: „Genau, so ist es. Aber es war nur ein kurzer Besuch. Ich muss wieder nach Hause. Und was machst du hier im Zug? Ein paar Tage in Urlaub fahren?“ „Ja, mehr oder weniger, denn ich besuche meine Familie. Sie wohnen nicht in Aehara, deswegen sehe ich sie leider nicht so oft“, erklärte sie sich.
Verstehend nickte Shuya und unterhielt sich noch eine ganze Weile angeregt mit dem Mädchen.