Kapitel 32 - Unerwartete Wendung


Sonntag, 10. Mai 2015

 

Kaum waren die Vier wieder aus dem Dungeon zurück und in ihrer Welt, verschloss Rin zügig den Durchgang. Noch während sie den Schlüssel drehte, bemerkte sie, dass sich ihr Körper schon wieder verändert hatte. Was nun? Großartig die Flucht zu ergreifen war ihr in ihrem Wohnheimzimmer nicht möglich. Eher musste sie ihre Freunde so schnell es ging loswerden, ohne dass sie aufflog. Aber wie?

Plötzlich kam dem Mädchen ein Geistesblitz und sie hielt augenblicklich ihren Atem an. Dadurch trat ihre neuste Kraft, die Unsichtbarkeit, in Erscheinung. Diese nutzte sie, um sich so schnell wie nur irgend möglich im Badezimmer zu verschanzen.

„Was ist denn jetzt los?“, hörte Akira nur das Knallen der Tür. „Ich glaube Rinacchi ist eben ins Bad gestürmt“, erörterte die Brünette die Situation. „Entschuldigt, aber ich musste echt dringend auf die Toilette“, ertönte die gedämpfte Stimme der Stipendiatin, „Das kann etwas dauern. Geht ruhig einfach nach Hause.“ „Es ist ja auch morgen wieder Schule und wir sollten ausgeschlafen sein, also passt das“, verstand Skye die Situation sofort und versuchte die beiden Oberschüler heraus zu scheuchen.

Während Akira ziemlich irritiert mit dem Jüngsten das Zimmer verließ, blieb Amika standhaft im Raum zurück. Zwar hatte der Grundschüler versucht das Mädchen ebenfalls loszuwerden, allerdings ließ sie es sich nicht nehmen als beste Freundin noch etwas zu bleiben. Sie hatte angeblich noch etwas mit Geflüchteter zu besprechen.

„Komm endlich raus da“, stand die Brünette fordernd vor verschlossener Badezimmertür, „Ich habe längst gemerkt, dass du irgendwas hast.“ „Ich habe nichts. Es ist wirklich alles okay“, versuchte Rin sich herauszureden, „Ich musste mich nur ziemlich dringend erleichtern.“ „Okay? Na, dann kannst du ja jetzt wieder rauskommen, wenn du fertig bist“, blieb sie hartnäckig. „Das dauert noch ein wenig“, stammelte Bedrängt. Amika winkte nur ab: „Nicht schlimm. Ich warte so lange.“

Innerlich fluchend und voller Panik stand die Blauhaarige wie angewurzelt im Bad. Was sollte sie nun tun? Eigentlich wollte sie nicht, dass zu viele Leute herausbekamen was hin und wieder mit ihr geschah. Es war ihr einfach überaus peinlich und sie konnte es selbst nur schwer ertragen. Allerdings war die Brünette ihre beste Freundin und es gab keinen sinnvollen Grund ihr dieses Phänomen zu verschweigen.

„O-Okay ich komme raus“, druckste Rin unsicher herum, „Aber bitte erschreck dich nicht.“

Etwas irritiert über diese Aussage, bejahte Wartende nur, woraufhin sich die Tür öffnete. Als die Blauhaarige heraustrat, zog ihre beste Freundin plötzlich vor Schreck scharf die Luft nach innen und weitete ihre Augen: „Was ist denn mit dir passiert?!“

Ungläubig musterte sie das zum Jungen gewordene Mädchen. Dazu ging sie um diese herum, inspizierte das dunkelblaue kurze Haar, blickte tief in ihre stechend gelben Augen, betatschte prüfend die flache Brust und fragte schließlich: „Hm… Hat sich da unten eigentlich auch was verändert?“

Das Interesse der Brünetten war viel zu groß, als dass es ihr auch nur ansatzweise peinlich war. Sie schien es regelrecht aufregend zu finden, dass sich der Körper ihrer Freundin so verändert hatte.

Rin verspürte im Gegensatz allerdings jede Menge Scham und ihr Gesicht war bereits zu einer purpurroten Färbung übergegangen: „I-Ich… A-Also…“ „Deiner Reaktion nach zu urteilen bis du also wirklich vollständig zu einem Jungen mutiert“, legte Amika ihren Kopf schief und versuchte die Antwort im Gesicht der Blauhaarigen zu lesen, „Ist das etwa schon öfter passiert? Du verwandelst dich doch irgendwann wieder zurück oder?“

Da die Stipendiatin einsah, dass Reden gerade nicht funktionierte, nickte sie nur und sah peinlich berührt zur Seite.

„Woah wie cool ist das denn?“, funkelten die Augen der Brünetten förmlich, „Und? Wie fühlt sich das an? Erzähl mir alles! Es gibt bestimmt nirgends weit und breit jemanden, der einen so direkten Vergleich der Geschlechter ziehen kann.“

Da die Brünette die Erste war, welche ein solch positives Interesse an der Verwandlung zum Jungen zeigte, war Rin sichtlich verunsichert. Sie wusste, dass ihre Freundin in mancher Hinsicht etwas anders dachte als sie selbst, aber damit hatte sie nun nicht gerechnet. Deswegen wusste die Blauhaarige nicht wirklich mit der aktuellen Neugierde ihres Gegenübers umzugehen. Sie selbst hatte bisher immer eine sehr negative Einstellung zwecks dieses Körpers und wollte ihn deshalb eigentlich gar nicht weiter erforschen, geschweige denn vergleichen. Klar war sie auch neugierig, aber das wollte sie sich wegen der generellen Ablehnung einfach nicht eingestehen. Und natürlich war es auch ihr Schamgefühl, welches sie zudem enorm hemmte.

„Ähm… I-Ich weiß nicht…“, wollte Rin dieses Thema überhaupt nicht erst anschneiden, „Ich finde das Ganze eher fürchterlich und würde lieber gerne wissen wie ich das stoppen kann.“ „Verstehe ich nicht. Das ist doch eine coole Fähigkeit“, blieb die Brünette optimistisch. „So cool ist das nicht. Es passiert unkontrolliert, wie du vielleicht bemerkt hast. Außerdem kenne ich die Ursache nicht“, erklärte die Blauhaarige besorgt, „Das kann genauso gerne verschwinden wie meine Elementarkraft.“ Ihre Freundin überlegte: „Okay, das klingt wirklich eher unpraktisch. Zumal das eine gefährliche Sache ist, da du es nicht kontrollieren kannst. Wenn du vor den falschen Menschen switchst, könnte das wirklich zu einem großen Problem werden. Und es mit der Unsichtbarkeit zu verbergen macht die Sache ja auch nicht unbedingt besser.“

Trotz all der negativen Aspekte, welche Amika dargelegt wurden, war sie trotzdem sehr von diesem Phänomen angetan. So redete sie noch eine Weile mit ihrer besten Freundin, um weitere Details zu erfahren. Dieses Mal ging es ihr weniger um die Peinlichkeiten, die das Ganze mit sich brachte, sondern eher um das Drumherum: Wer bereits eingeweiht war, wo diese Kraft hergekommen war und wann sie in der Regel zum Vorschein kam.

Da das meiste allerdings nur in offenen Fragen endete, beließen es die beiden Oberschülerinnen nach einer Weile erstmal dabei und verabschiedeten sich. Es war sowieso schon etwas später am Abend geworden und sie mussten sich noch ein wenig auf die Prüfungen vorbereiten, welche sie ab morgen erwarteten.

 

Während die Mädchen im Wohnheimzimmer miteinander plauderten, hatte auch Akira etwas mit Skye zu besprechen. Kaum hatten die beiden das Gebäude verlassen, fiel er auch schon mit der Tür ins Haus: „Sag mal Skye, warum hast du wirklich etwas gegen die Beziehung zwischen Rin und mir? Da muss doch ein Grund sein.“

Wenig überrascht, lief der Jüngere schweigsam neben ihm her.

„Willst du mich wirklich einfach ignorieren und das so stehenlassen?“, schnaubte der Rothaarige und blickte gen Himmel, „Weißt du, ich kann dir noch nicht mal sagen, ob wir überhaupt eine richtige Beziehung führen.“ „Wie meinst du das?“, schaute der Grundschüler verwirrt zum Älteren auf. Dieser erwiderte den Augenkontakt und lächelte ein wenig gequält: „Ich weiß nicht, ob du das wusstest, aber Rin war einer Antwort zu meiner Liebeserklärung ziemlich lange ausgewichen. Irgendwann kam sie dann zu mir und hat mich um eine Beziehung auf Probe gebeten. Es ist nur ein Versuch. Wir sind gar nicht wirklich zusammen. Das hast du bestimmt selbst schon bemerkt, oder? Ihr Verhalten mir gegenüber hat sich bisher nicht im Geringsten verändert.“ „Na ja, im Dungeon war da keine Spur von einer Liebesbeziehung zu sehen. Allerdings ist das auch nicht unbedingt ein geeigneter Ort für ein Date“, erntete der Oberschüler nur einen kritischen Blick, „Außerdem seid ihr noch gar nicht lange zusammen und noch jung. Da dauert das mit der Annäherung eben etwas länger. Deswegen gilt es für mich jetzt am meisten euch wieder auseinander zu bekommen.“ „Auf der einen Seite klingst du wie ein Opa und auf der anderen wieder wie ein bockiges Kind. Ich verstehe nicht was dich dazu veranlasst dich gegen uns zu stellen. Niemand versteht das. Und solange du keinen vernünftigen Grund vorzuweisen hast, wirst du dir keine Freunde damit machen“, erklärte der Rotschopf noch immer ruhig.

Ihm fehlte die Kraft sich darüber großartig aufzuregen. Rin tat das schon genug für beide zusammen. Trotzdem bedeutete das nicht, dass er einfach so aufgeben würde. Nicht jetzt, da er ihr so nah wie nie zuvor war und die Chance hatte sie vollends herumzubekommen. Er war sich darüber bewusst, dass sie ihm noch nicht vollständig verfallen war, würde aber so kurz vorm Ziel sicher nicht wieder einen Rückzieher machen.

„Es gibt einen Grund. Einen ziemlich guten sogar“, senkte Skye den Kopf, „Aber ich darf nicht darüber sprechen.“ „Du darfst es nicht? Wer verbietet es dir?“, verstand der Älter die Aussage nicht, „Oder willst du damit sagen, dass du eifersüchtig bist, weil du selbst in sie verliebt bist und sie nicht hergeben willst? Aber als Grundschüler hast du da echt schlechte Karten.“ „Blödsinn! Ich gebe dir Brief und Siegel, dass ich mich niemals in sie verlieben werde“, kam es ziemlich empört aus dem Jungen. „Ach so!“, kam Akira ein Geistesblitz, „Jemand den du kennst ist unsterblich in sie verliebt und du willst jetzt den Vermittler spielen!“ „Wenn es ja so einfach wäre… Aber dieser Trottel kapiert gar nicht, dass er sie liebt“, plapperte der Schwarz-Blauhaarige seine Sorgen aus, als er im selben Moment plötzlich zusammenzuckte vor Schreck.

So viel wollte er doch gar nicht preisgeben. Warum also ist er einfach darauf eingegangen, obwohl das bedeutete, dass das Gespräch einfach nie enden würde?

Siegessicher grinste der junge Mann: „So ist das also. Wer ist dieser dumme Kerl, der Rins Wert nicht erkennt? Und warum willst du ausgerechnet ihn so krampfhaft mit ihr zusammenbringen?“ „Ich werde jetzt nichts mehr dazu sagen! Du weißt schon mehr als mir lieb ist“, meckerte Skye. „Sag mir wenigstens wer dieser Typ ist. Kenne ich ihn? Ich muss wissen, gegen wen ich ankämpfe“, ballte der Rotschopf voller Energie und Optimismus seine Fäuste zum Kampf. „Nein!“, kam eine ziemlich genervte Antwort. „Ist ja gut“, spielte der Ältere den Beleidigten, „Aber wenn du wirklich der Meinung bist, dass sie zusammengehören, dann finden sie zusammen. Egal ob du nachhilfst oder nicht.“ „Das heißt du kapitulierst jetzt doch?“, staunte der Grundschüler überrascht. „Bestimmt nicht. Das heißt nur, dass du aufhören sollst dir alle zum Feind zu machen. Diese Beziehung hat rein gar nichts mit dir zu tun. Lass einfach die Finger davon, geh dich mit Rin versöhnen und konzentrier dich auf dein Weltrettungsding oder so.“ „Wenn du das sagst“, wollte der Grundschüler das letzte Wort haben und schnaubte schwer.

 

 

Montag, 11. Mai 2015

 

Erschöpft vom ersten Prüfungstag kam Rin am Nachmittag im Wohnheim an. Sie fühlte sich wirklich mies, weil die Aufgaben ihr schwere Probleme verursacht hatten. Zwar hatte sie mit ihren Freunden gelernt und sich einiges Wissenswertes einprügeln können, andererseits war sie ziemlich abgelenkt durch die aktuellen Geschehnisse. Am gestrigen Abend versuchte sie vorm Schlafengehen auch nochmal in die Bücher zu schauen. Blöderweise war sie da zu müde, um sich zu konzentrieren. Und als sie sich dann ins Bett legte, konnte sie trotz Müdigkeit nicht schlafen. Sie hatte große Sorge die Prüfungen zu vermasseln oder erst gar nicht hingehen zu könne, da sie ja mal wieder zum Jungen geworden war. Gott sei Dank war sie am heutigen Morgen wieder normal. Allerdings war die Stipendiatin als Kettenreaktion dessen, immer noch hundemüde und wollte nur noch in ihr Bett.

Deswegen lief sie zügig zu ihrem Zimmer hinauf. Gerade als sie ihre Schlüsselkarte durch den Schlitz ziehen wollte, um die Tür zu öffnen, ertönte eine abgehetzt männliche Stimme: „Warte, Ruri! Warum antwortest du nicht mehr?! Ich habe mir Sorg-…“ „Nerv mich nicht!“, drehte sich Rin wütend um und keifte den unbekannten jungen Mann an, „Wann lernt ihr das endlich?! Ich bin nicht Ruri!“

Das letzte worauf die Oberschülerin gerade Lust hatte, war ein erneutes klärendes Gespräch darüber, dass sie weder die Schülersprecherin war, noch mit ihr verwandt war. Zumal es sowieso aktuell die Runde gemacht hatte, dass eben diese im Koma lag und Rin von so manch einem die Schuld zugewiesen bekommen hatte. Für heute hatte sie also definitiv genug Kontakt zu Menschen gehabt. Außerdem hatte sie gerade bedingt durch ihre Müdigkeit und schlechte Laune eine sehr kurze Zündschnur.

„Wow, chill doch mal“, erhob der Unbekannte überrascht beide Hände, als wolle er sich ergeben.

Die Oberschülerin hingegen machte diese Reaktion eher noch rasender, weswegen sie tief einatmete, die Schlüsselkarte durch den vorgesehenen Schlitz zog und ihre Zimmertür mit einem Piepen entriegelte. Den Typen ignorierend ging sie zügig hinein, konnte jedoch die Tür nicht wieder verschließen, da der junge Mann diese mit seinem Fuß stoppte.

„Hey, was soll das?!“, schnauzte das Mädchen ihn an. „Das könnte ich dich genauso fragen, du blöde Schnepfe!“, stand er nun unmittelbar vor ihr auf der Türschwelle und sah sie böse an.

Erst jetzt nahm die Oberschülerin ihn so richtig zur Kenntnis. Er schien etwas älter zu sein, als sie. Vielleicht ein Student oder dergleichen. Sein Haar war dunkelblau und ragte bis zum Kinn. Die eine Seite seines Ponys hatte er zurückgesteckt, während die andere Seite relativ weit in sein Gesicht hing. Auf der freien Seite seiner Stirn war er mit zwei kleinen schwarzen Sternchen tätowiert, welche ihm zusammen mit seinem frechen Gesichtsausdruck ein rebellisches Äußeres bescherten. Angezogen war er aber relativ modisch, wie Rin fand. Er trug eine schwarze Weste, welche mit weißen Akzenten aufgepeppt war. Passend zu seinen gelbbraunen Augen, trug er ein gelbes ärmelloses Shirt und dazu eine dunkelblaue zerrissene Jeans, wie sie zurzeit im Trend lag. Außerdem hatte er sich zwei Gürtel lässig um die Hüfte gehängt, wovon einer, genau wie sein Armband, mit Nieten besetzt war. Seine Füße steckten in schwarz-weißen Chucks, welche mit roten Schnürsenkeln gepimpt waren.

„Was soll das denn bitte heißen?“, gab die Stipendiatin erneut kontra, „Wer hat mich denn hier überfallen und steht nun mit halbem Bein in meinem Zimmer?“ „Überfallen? Dass ich nicht lache! Ich kann dich mal überfallen, dann weißte was das heißt! Und du bist doch diejenige die hier rumzickt und einen auf billiges Ruri-Double macht! Wer bist du überhaupt?“, verschränkte der Blauhaarige die Arme und sah das Mädchen fordernd an. „Kannst du vielleicht mal aufhören mich zu beleidigen?! Ich bin niemandes Double und ich kann auch nichts dafür, dass wir uns scheinbar ähneln! Und warum sollte ich mich vorstellen, wenn du es auch nicht tust?! Verschwinde endlich!“, ließ Rin ihrer Wut freien Lauf.

Daraufhin wendete sie sich einfach von ihm ab und ging weiter ins Innere des Raums, in der Hoffnung der Unbekannte würde nun wirklich verschwinden. Ihn mit Gewalt loszuwerden versuchte sie erst gar nicht, denn sie wusste selbst, dass das vermutlich nicht klappte. Der Kerl hatte wirklich einen der ungünstigsten Zeitpunkte gewählt, um mit ihr zu kommunizieren.

Ein Klacken signalisierte schließlich, dass die Tür ins Schloss gefallen war. Erleichtert atmete die Blauhaarige daraufhin leise auf, bevor der junge Mann plötzlich doch wieder vor ihr stand. Erschrocken zuckte sie zusammen und war erneut angespannt. Was sollte sie jetzt machen? Sie war alleine und saß mehr oder weniger in der Falle. Sollte sie sich vielleicht unsichtbar machen und vor ihm die Flucht ergreifen, um in der Empfangshalle nach Hilfe zu suchen? Aber wenn sie jetzt ihre Kraft einsetzte verriet sie sich. Oder wie wäre es, wenn sie ins Badezimmer fliehen würde, um bedingt durch ihre Panik einen zufälligen Wasserangriff hervorzurufen? Wobei sie sich damit durch ihre Angst nur selbst ausknocken würde. Und es wäre auch nicht besser als die Unsichtbarkeit, weil sie damit ebenfalls verriet was sie geheim halten sollte. Diese ganzen Kräfte waren echt nutzlos. Noch einige weitere Szenarien ratterten in diesen wenigen Sekunden durch Rins Kopf, doch keines führte sie zu einer hilfreichen Lösung.

Der junge Mann schnaubte schließlich: „Nochmal auf Anfang. Ich bin Kyo Yashiru.“

Er war scheinbar erwachsen genug, um zu verstehen, dass dieses Gezanke ihn nicht weiterbrachte. Man merkte ihm aber an, dass es ihm nicht passte sich mehr oder minder erstmal geschlagen zu geben. Genervt fläzte er sich daraufhin in die kleine Sitzecke und ließ das Mädchen verdutzt dastehen.

„Willst du mir jetzt sagen wer du bist?“, stützte er gelangweilt seinen Kopf mit dem Arm ab und wartete auf eine Antwort.

Durch seine kühle Reaktion verließ auch Rin endlich die Streitsucht und sie stellte sich vor, während sie ebenfalls platznahm. Außerdem klärte sie ihn über ihre Beziehung zur Schulsprecherin auf und erwähnte, dass es einfach ein Zufall war, dass beide gewisse Ähnlichkeiten aufwiesen. Zuletzt erzählte sie noch grob, dass ihre Klassenkameradin aktuell im Krankenhaus war, da Kyo sie zu suchen schien.

„Wie Krankenhaus?“, sprang er panisch auf, „Was hat sie? Ist alles in Ordnung?!“ „Beruhige dich. Panik zu schieben bringt nichts“, versuchte sie den jungen Mann erstmal wieder runterzubringen. Dann machte sie eine kurze Verschnaufpause und erzählte grob die Story: „Vor einer knappen Woche ist sie einfach so zusammengebrochen und seitdem liegt sie im Krankenhaus. Ihr Vater hat bereits alle möglichen Testergebnisse vorliegen. Ruri geht es gut.“ „Na Gott sei Dank“, fiel dem Blauhaarigen offenbar ein Stein vom Herzen, „Aber dann ist sie ja gar nicht hier in der Stadt, oder? Warum hat sie sich denn dann nicht einfach gemeldet? Ich mache mir doch so oder so Gedanken.“ „Das mit dem Melden ist halt bisschen schwer, wenn man im Koma liegt“, grinste das Mädchen nur schief. „Wie Koma?! Du hast doch gesagt ihr geht’s gut!“, fiel Kyo aus allen Wolken. Die Oberschülerin legte irritier den Kopf schief: „Aber ich habe doch gesagt, dass sie zusammengebrochen war.“ „Ja, aber das heißt noch lange nicht, dass sie nicht mehr ansprechbar ist!“, schob er schon wieder Panik. „Trotzdem kannst du cool bleiben. Ihr geht’s gut und sie wird auch bald wieder aufwachen“, versuchte die Blauhaarige die Ruhe zu bewahren, „Sie gönnt sich einfach mal eine Verschnaufpause von dem ganzen Stress in letzter Zeit.“ „Du klingst als wäre sie dir ziemlich egal“, fing der junge Mann sich langsam wieder. „Nein ganz und gar nicht“, schüttelte die Stipendiatin den Kopf, „Sie ist zu einer wichtigen Freundin geworden und ich glaube ganz fest an sie. Außerdem würde sie nicht wollen, dass wir uns so viele Gedanken machen.“

Ihre gespielten ruhigen Worte, brachten auch ihren Gegenüber wieder zur Ruhe. Zwar war sie alles andere als sorglos, aber ihre wahren Gründe konnte sie ihm unmöglich offenbaren.

„Sag mal, was genau hast du eigentlich mit Ruri zu schaffen? Bist du ihr Freund oder so?“, war Rins Neugierde mal wieder geweckt. „Na ja, das ist eine lange Geschichte“, kratzte Kyo sich verlegen am Hinterkopf und wendete den Blick ab, „Wir kennen uns einfach schon seit Kindertagen und haben einiges gemeinsam durchgestanden. Das verbindet wohl irgendwie.“

Verstehend nickte die Oberschülerin und fand ihn schlussendlich doch sympathischer als anfangs gedacht. Irgendwie tat es ihr fast schon leid, dass sie ihn zu Beginn so unfreundlich angegangen war. Immerhin konnte er ja auch nichts für ihre blöde Laune. Aber da das Thema nun in Vergessenheit geraten war, wollte sie es auch nicht mehr ausgraben, um sich zu entschuldigen.

„Na dann mache ich mich mal wieder auf den Weg nach Hause und werde mal nach ihr sehen“, erhob sich der Blauhaarige aus der Sitzecke.

Auch seine Gesprächspartnerin stand auf. Sie wollte ihn zumindest bis zum Ausgang des Wohnheims begleiten und ihn ordentlich verabschieden. Als kleine Entschädigung für die missratene Begrüßung.

Als die beiden gemeinsam durch die Eingangshalle liefen, bemerkte Rin, dass einige ihrer weiblichen Mitbewohnerinnen ihren Begleiter angafften. Er kam scheinbar ziemlich gut bei den Mädels an, wie es schien. Da hatte die Oberschülerin bisher so gar nicht drüber nachgedacht, aber eigentlich sah er schon recht attraktiv aus.

Allerdings änderte sich ihre Meinung plötzlich schlagartig, als Kyo damit begann aktiv auf die anderen Mädchen einzugehen, indem er ihnen zuzwinkerte oder andere signalisierende Gesten machte. Bis eben hielt sie ihn noch für einen recht normalen Kerl, bei dem sie sich beinahe entschuldigt hätte. Aber dieses Playboy-Dasein änderte einfach alles. Zumal er die ganzen Zicken durch sein freches Grinsen und seine Handlungen dazu brachte sich plötzlich um ihn zu scharen. Irgendwie schaffte er es mit allen direkt anzubandeln, legte seinen Arm und ihre Schultern und schlenderte mit ihnen einfach aus dem Wohnheim heraus. Wie angewurzelt blieb Rin einfach an Ort uns Stelle stehen und sah der Meute zu, wie sie beim Herausstolzieren beschloss, noch in ein Café oder Ähnliches zu gehen.

„Ähm…“, konnte es die Blauhaarige nicht fassen, dass sie einfach stehengelassen wurde, „Was ist gerade passiert?“

Der junge Mann hatte nicht mal irgendwelche Anstalten gemacht sich zu verabschieden, geschweige denn zu fragen, ob sie vielleicht mitkommen wollte. War sie für ihn etwa Luft? War sie nicht attraktiv genug? Nicht weiblich genug? Sah er sie überhaupt als Frau?

Was auch immer der Grund gewesen sein mag, es kratzte enorm an ihrem Selbstwertgefühl und machte sie erneut wütend. Sie dachte ernsthaft, dass dieser Playboy sich um Ruri sorgte. Immerhin kam er scheinbar extra den weiten Weg von Kagaminomachi her, nur weil sie ihm nicht mehr antwortete. Und dass er vorhin direkt nach Hause wollte, um nach ihr zu sehen, war wohl auch eine Lüge. Schließlich ging er sich jetzt mit einem Haufen Weibern vergnügen. Aber nicht nur, dass die Oberschülerin Kyo nicht verstand, nein, denn diese auf das Äußere fixierten Ziegen waren ihr ebenfalls ein Rätsel.

„Das sind ja eigentlich die gleichen Ziegen, die auch Kuro für einen Prinzen halten“, nuschelte sie vor sich hin, „Die leiden wohl alle an einer Geschmacksverirrung.“

Noch immer nicht verstehend, was sich da soeben vor ihren Augen abgespielt hatte, ging Rin wieder zurück auf ihr Zimmer. Eigentlich hätte sie ziemlich gerne herumgewütet, weil sie einfach ignoriert und stehengelassen wurde. Allerdings war sie viel zu verwirrt darüber.

„Hoffentlich ist Ruri nicht genauso dumm wie die anderen und findet was an diesem Playboy…“, murmelte das Mädchen, „Die haben doch nicht mehr alle Latten am Zaun.“


Kommentare: 0