Kapitel 37 - Hagelsturm


Samstag, 16. Mai 2015

 

Bereit sich offensichtlicher weise der nächsten Prüfung zu stellen, tastete die Blauhaarige den Durchgang ab, um den Mechanismus zu finden, welcher diesen öffnete.

„Warte mal“, hielt Skye sie zögerlich auf, „Irgendetwas ist hier anders.“

Erschrocken zuckte Rin zusammen und sah zu dem Jüngeren herüber, welcher nur stumm auf der Suche nach einer Lösung war. „Haben wir es etwa schon zum finalen Kampfplatz geschafft?“, hakte Akira nach. Der Kleine schüttelte nur den Kopf: „Nein, das glaube ich nicht. Aber hinter der Tür scheint etwas auf uns zu warten.“ „Etwas Gutes oder etwas Schlechtes?“, legte die Stipendiatin den Kopf schief.

Ein unschlüssiges Schulterzucken des Schwarz-Blauhaarigen verriet, dass er selbst nicht wusste was dahinter lag. Er hatte es nur in seinem Gefühl, dass da etwas anders war als sonst.

„Na ja, Rumstehen und Warten bringt uns jetzt auch nicht ans Ziel“, gab Amika von sich und versuchte den versperrten Weg zu öffnen, was ihr schlussendlich recht schnell gelang.

Vorsichtig und bereit auf alles, betrat die Gruppe den Raum, welcher sich dahinter erstreckte. Widererwarten standen sie jedoch nicht in einem Klassenraum, sondern in einer Art Lobby oder dergleichen. Diese war wie zu erwarten komplett aus Eis. Es war ein relativ großer Ort, welcher prunkvoll ausgestattet war. An den Wänden hingen edel aussehende Bilderrahmen und teuer wirkende Lampen, während rechts und links vom Raum jeweils eine leicht gebogene, breite Treppe hinauf zu einer zweiflügligen Tür führte. Im Untergeschoss standen zudem noch einige Zierpflanzen und ein paar wenige Möbel, welche sicherlich sehr bequem gewesen wären, würden sie nicht komplett aus Eis bestehen.

„Wo sind wir denn hier gelandet?“, sah sich Akira verwundert um. Auch der Rest staunte nicht schlecht und die Blauhaarige konnte es ebenfalls nicht unkommentiert lassen: „Das passt ja jetzt schon wieder so gar nicht zum Gefängnisstyle.“ „Das große Tor da oben sieht so aus, als hätten wir unser Ziel erreicht“, stellte der Suzuki-Erbe fest. „Komisch ist nur, dass wir von hieraus nicht zurückkönnen“, starrte der Jüngste gebannt auf das projizierte Hologramm seines Horos. „Wahrscheinlich müssen wir erst mal da hoch“, setzte sich Rin in Bewegung, „Aber abgesehen davon brauchen wir das doch sowieso nicht. Lasst uns Ruri direkt retten.“

Plötzlich wurde die Oberschülerin am Handgelenkt gepackt und unsanft zurückgezogen.

„Aua! Was soll das?“, stolperte das Mädchen zurück und stieß mit dem noch immer kurz geratenen Kuro zusammen. Dieser hatte auch weiterhin ihr Gelenk fest umschlossen, als er durch den Schwung nach hinten umfiel und die Wankende so mit sich riss. Unsanft landete der Ältere auf seinem Rücken, während er nochmal einen schmerzenden Laut von sich gab, als die Blauhaarige der Länge nach auf seinen Oberkörper fiel.

„Man bist du schwer“, meckerte der Suzuki-Erbe die Jüngere an. „Du bist doch selbst dran schuld! Warum machst du sowas?!“, keifte Rin ihn an.

Noch bevor das Ganze zu einem erneuten Streit ausarten konnte, packte Akira seine Freundin und half ihr behutsam wieder auf die Beine: „Ist alles okay?“ „J-ja, geht schon“, stieg ihr eine leichte Röte ins Gesicht.

„Leute, passt auf!“, richtete sich die Aufmerksamkeit der Brünetten vollkommen auf das Geschehen vor ihr. Dort manifestierte sich soeben ein recht stark wirkender Shadow.

„Ich glaube der wurde durch Rin getriggert“, beobachtete Skye das Geschehen.

Es war eine hübsche Lady, welche dort vor ihnen in Erscheinung getreten war. Sie hatte hellblondes Haar, welches mit zwei dicken pinken Strähnen durchzogen war. An ihrem Körper trug sie einen engen roten Ganzkörperanzug mit schwarzen Handschuhen und nackten Füßen. Darüber hatte sie sich einen kurzen dunkelgrau gemusterten Umhang übergeworfen.

„Langsam finde ich es gar nicht mehr eigenartig, dass die Gegner in diesem Dungeon meist junge aufreizende Frauen sind“, stöhnte Amika schwer.

Während Skye mit einer Analyse des Shadows begann, rappelte sich auch der Schwarzhaarige so langsam mal wieder auf und murrte nur leise: „Ja, kein Ding. Gern geschehen.“

Dass er es war, der verhindert hatte, dass der Tollpatsch geradewegs in den Feind rannte, schien bedeutungslos. Allerdings sah er auch schnell ein, dass es soeben wichtiger war ihren Gegner in die Knie zu zwingen, bevor sie am Ende noch größeren Schaden nahmen.

„Hast du schon etwas herausgefunden, Skye?“, schaute Akira zum Jüngsten, während er sich etwas vor seine Freundin schob und seinen Baseballschläger kampfbereit umklammerte. „Ich brauche noch kurz“, bildeten sich Schweißperlen an seiner Stirn und er tippte wie wild auf der für die anderen unsichtbaren Tastatur. Rin hingegen blieb etwas gelassener als sie sollte: „Ach was solls, wir werden doch sowieso gleich herausfinden welches ihr Element ist.“

Daraufhin knallte sie ihren Saphir energisch gen Boden, sodass er zerplatze und in einem aufsteigenden Wasserstrudel Kyusagi freigab. Mit einer „Single Kick“ Attacke, befahl ihr ihre Besitzerin den Kampf zu eröffneten, wodurch die Hasenfrau sich dem Shadow näherte. Die Gegnerin ließ sich das jedoch nicht so einfach gefallen, weswegen sie plötzlich einen konternden Gegenangriff startete. Indem sie mit spitzen Eissplittern um sich warf, konnte sie den Nahangriff stoppen. Obwohl die Persona sich große Mühe gab auszuweichen, wurde sie trotzdem an einigen Stellen getroffen und kehrte erstmal als Saphir zu Rin zurück. Diese knickte unterdessen ein und kniete schmerzerfüllt auf dem Boden.

„Warum wartest du denn auch nicht?!“, keifte Kuro die Verletzte an. Sie hatte allerdings zu große Schmerzen, um sich diesem sinnlosen Streit hinzugeben. Stattdessen war es der Rothaarige, welcher mit verstimmtem Blick zu seinem Kumpel hinaufsah, als er bereits neben Verletzter in die Hocke gegangen war, um nach ihr zu sehen. Mit einem Zungenschnalzer verdrehte der Ältere die Augen und richtete seine Aufmerksamkeit wieder dem Kampfgeschehen zu.

„Scheinbar ist sie von Typ Eis“, konnte man ein wenig die Vorfreude in Amikas Stimme erkennen, als sie ihren Rubin in die Höhe warf und ihn anschließend zwischen ihren klatschenden Händen zerbrach, „Persona!“

Aus einem Feuerstrudel stieg Taiga auf, welche genauso energiegeladen schien wie ihre Besitzerin. Doch noch bevor die Brünette einen Feuerangriff starten konnte, ergriff Skye das Wort: „Endlich ist die Analyse durch! Das ist Lachesis von Typ Eis.“ „Was du nicht sagst“, kam es ironisch vom Schwarzhaarigen zurück. Aber nicht nur sein Blick passte zu dieser Aussage, denn auch alle anderen Gruppenmitglieder schauten ähnlich ironisch zu ihm herüber.

„Ist ja okay“, zuckte der Kleine gleichgültig mit den Achseln, „Ihr solltet aber trotzdem aufpassen. Sie ist auf einem viel höheren Level als alle Gegner zuvor.“

Erneut trafen ihn kritische Blicke, als Akira dieses Mal seinen Senf dazugab: „Das ist die Information, die wir noch nicht hatten. Sowas musst du zuerst sagen.“ „Wohl wahr“, meinte die Brünette, „Anhand der Eissplitter war ja abzusehen welches Element sie beherrscht. Und wie sie heißt ist zumindest mir ziemlich egal, aber ich glaube, dass ich da für alle spreche.“ „Ist ja gut, ich hab‘s kapiert“, schmollte der Grundschüler, da er zu sehr in seine Recherche vertieft war, um aktiv etwas mitbekommen zu haben.

Noch bevor die Feuerkämpferin einen Angriff starten konnte, hatte es sich Lachesis nicht nehmen lassen die Gelegenheit zu nutzen, um einen Hagelsturm anzuzetteln. Zuerst startete er recht harmlos, dann jedoch vermehrten sich die Hagelkörner drastisch und wurden zudem auch noch sehr viel größer, bis sie schließlich die Größe eines Tischtennisballes hatten.

Während Amika mit ihrem Feuer eine gute Abwehr für sich und Skye errichten konnte, hielt Akira die Verletzte fest im Arm und beugte sich schützend über sie. Dadurch trafen ihn die harten Brocken am Rücken, was ihn jedes Mal zusammenzucken ließ. Kuro hielt sich einen Arm schützen über seinen geduckten Kopf, während er mit seiner Erdmagie versuchte einen kleinen Unterschlupf für das Paar zu konstruieren.

„Wann hört das bloß wieder auf?!“, hörte man die Stimme der Brünetten kaum, da der Hagel durch den Aufprall so laute Geräusche verursachte. „Hoffentlich gleich“, kniff der Grundschüler seine Augen zusammen und hielt weiterhin seine Arme schützend über den Kopf. Durch das Horo hörte man zudem noch den Suzuki-Erben, welcher nur schmerzerfüllte Laute von sich gab.

Trotz der Strapazen hatte er es geschafft die Kampfunfähigen hinter einem Erdschutz zu verbergen. Für seine eigene Verteidigung hatte er jedoch keine Kraft mehr. Völlig verausgabt kniete er auf dem Boden und hatte seine Arme ebenfalls schützend über den Kopf gelegt. Dabei war er nochmal um einige Zentimeter geschrumpft, sodass seine Kleidung an ihm herunterhing wie ein nasser Sack. Er müsste nun in etwa Skyes Größe erreicht haben.

Allmählich ließ der heftige Angriff wieder nach und Amika beschwor Taiga erneut. Außer Atem befahl sie ihr ziemlich schwerfällig einen Agi Angriff. Dieser traf den Shadow schwer, sodass er zu Boden ging. Erst jetzt bemerkte das Mädchen, dass ihre Persona scheinbar einen neuen Feuerangriff ausführen konnte. Er war stärker als der vorherige und die Brünette nutze die Gelegenheit: „Taiga! Gleich nochmal! Benutze Agilao und mach sie fertig!“

Eine noch stärkere Feuerattacke prasselte auf das Eiswesen ein. Noch immer war es durch den einschlagenden Angriff am Boden und konnte sich nicht bewegen.

Da sich Kuro natürlich auch nicht lumpen lassen wollte, mischte er mit, indem er seine Pistolen zückte und diese abfeuerte. Zwar hockte er noch immer, da ihn seine Kräfte verlassen hatten, allerdings hielt ihn das nicht davon ab ein Dauerfeuer auf Lachesis abzugeben. Leider war es ihm auch nicht möglich Sarubi zu beschwören, da ihm für eine solch kräftezehrende Aktion auch die Energie fehlte. Allerdings waren seine Waffen schon Hilfe genug. Um dem Ganzen noch eins draufzusetzen, schickte Amika noch den ein oder anderen Feuerpfeil hinterher, welcher dem Shadow schließlich den Gnadenstoß versetzte.

Aufatmend sackte das Mädchen schlussendlich in sich zusammen und fläzte auf dem eisigen Lobbyboden. Auch die Anspannung des Suzuki-Erben war verflogen, woraufhin er ohnmächtig wurde und dadurch zeitgleich auch der kleine Schutzwall um Akira und Rin zerbröselte.

„Ist es geschafft?“, kam es ungläubig vom Rothaarigen.

Ein Nicken seiner Klassenkameradin ließ ihn aufatmen. Allerdings nur so lange, bis er seinen Kumpel erspähte.

„Wir haben uns zu sehr verausgabt“, erklärte die Brünette schwach, „Außerdem wurde Kuro ungefiltert von dem Hagel getroffen. Ich hatte keine Chance ihm zu helfen. Aber wenigstens Skye konnte ich beschützen.“ Dieser war von allen auch der Einzige der noch stand: „Rin, kannst du Dia einsetzen?“

Da auch ihr die Kraft fehlte, um Kyusagi zu beschwören, schüttelte sie nur zögerlich den Kopf. Ihr Freund schien allerdings noch etwas zuversichtlicher zu sein: „Warte mal, wir haben doch noch Medizin dabei. Wenn wir dich damit aufpäppeln, dann…“ „Das wird nichts“, unterbrach der Grundschüler ihn, ohne weiteres zu erklären.

Es dauerte kurz, bis der Rotschopf verstand was gemeint war. Bis dahin suchten seine Augen nach dem Rucksack mit dem Proviant, welchen er immer mit sich führte. Allerdings musste er feststellen, dass dieser vollkommen zerfleddert war und der Inhalt so gut wie vollständig zerstört wurde.

„Oh nein!“, stieß Akira entsetzt aus, „Da war alles drin! Unsere Getränke, die ganzen Pflaster und die Medizin, die wir unterwegs gefunden hatten. Einfach alles!“ „Skye, wie sieht es aus? Kommen wir jetzt vielleicht wieder hier raus?“, stellte die Brünette die eigentlich wichtigste Frage.

Kurz schaute Angesprochener nach, ob es eine Möglichkeit gab sich zum Eingang zurückbefördern zu lassen. Sein sich aufhellendes Gesicht war dabei jedoch Antwort genug für die Oberschüler. Erleichtert atmete Amika aus und ein kleines Lächeln huschte über ihre Lippen. In die Ferne schauend, wo sich kurz zuvor noch ein heftiger Kampf abspielte, ließ sie die letzten Stunden Revue passieren. Es war immer noch unfassbar was sie alles in dieser eigenartigen Welt erlebten.

Plötzlich riss die Brünette geschockt die Augen auf und konnte nicht glauben was sie einige Meter vor sich erblickte. Diese wieder zusammenkneifend, starrte sie mit offenem Mund in die Ferne. Der plötzliche Adrenalinschub brachte sie jedoch sofort zurück auf die Beine und schwermütig setzte sie eins vor das andere, bis sie schließlich rannte: „Kaori-nee!!!“

Erschrocken durch die eigenartige Reaktion der Oberschülerin, blickten die Übriggebliebenen ihr hinterher. Halluzinierte sie etwa? Schnell war allerdings klar, dass dort wirklich jemand zu erkennen war. Ein Mädchen, welches Amikas Schwester zum Verwechseln ähnlichsah. Sie streckte die Arme nach der Jüngeren aus und lächelte freundlich. Mit Tränen in den Augen sprang die Brünette ihrer totgeglaubten Schwester in die Arme und konnte es kaum fassen sie hier zu treffen. Sie musste ihr so viel sagen, sich für all das Leid entschuldigen und – Plötzlich realisiert Amika, dass ihr Sprung nicht abgefedert wurde, sie geradewegs durch die Ältere durchfiel und schmerzhaft auf dem Boden aufknallte. Mit einer großen blutenden Schramme im Gesicht, drehte sie sich blitzschnell um, nur um festzustellen, dass Kaori augenblicklich verschwamm und sich einfach auflöste.

Geschockt konnte sie ihren Augen nicht glauben, begann dann aber schließlich jämmerlich zu weinen. Schwermütig stand Rin auf und ging zu ihrer besten Freundin herüber, um sie wortlos zu umarmen. Was auch immer es war, was sie alle gesehen hatten, es war schlussendlich nur eine Illusion.

Damit beförderte Skye sie nun auch zurück zum Eingang und schweren Schrittes kam die Truppe wieder im Wohnheimzimmer der Blauhaarigen an. Die Mädchen stützten sich gegenseitig und verschwanden umgehend im Badezimmer. Unter dem Vorwand Amikas blutende Wunde zu versorgen schlossen sie sich dort erstmal ein. Zwar war dies ein Mitgrund, aber der Hauptgrund war Rins erneute Verwandlung zum anderen Geschlecht. Als hätte sie es nicht bereits geahnt.

Akira trug den bewusstlosen Kuro und bekam derweil gar nicht mit, dass seine Freundin sich eigenartig verhielt, als sie im Bad verschwunden war. Fertig mit der Welt, legte der Rotschopf seinen Kumpel auf dem Sofa ab und setzte sich direkt daneben, um durchzuatmen. Auch der Grundschüler tat es ihm gleich und hockte sich zu ihm. Derweil ließ der Ältere seine Gedanken schweifen und versuchte runterzukommen. Schon wieder war er vollkommen nutzlos gewesen und konnte so gar nichts ausrichten. Selbst Skye war eine bessere Hilfe als er und das obwohl der Kleine gar nicht groß am Kampfgeschehen beteiligt war. Aber durch seine Analysefähigkeiten war er immerhin eine große Hilfe. Akira hingegen war nur anwesend und musste ständig beschützt werden, weil er selbst das nicht selbst hinbekam. Jedes Mal war es Kuro, der die Stipendiatin rettete. Zwar hielt er Rin jedes Mal im Arm und versuchte den Schaden mit seinem Körper abzufedern, aber schlussendlich war es trotzdem immer sein Kumpel, der ihr Schutz bot. Der Rothaarige fühlte sich erbärmlich beim Gedanken daran und umklammerte seinen Topas fest in seiner Faust. Warum war er der einzige, dessen Persona nicht erwachen wollte? Was machte er verkehrt? Selbst Amika hatte eine Persona bekommen und Ruri würde es erfahrungsgemäß wohl bald ähnlich ergehen. Nur er nicht.

Noch eine ganze Weile verfiel der junge Mann seinem Selbstmitleid, ehe ihm plötzlich ein Geistesblitz kam. Verkündend, dass er kurz zum Konbini gehen würde, verließ er schlagartig den Raum. Ob er jemandem was mitbringen solle, fragte er zwar noch, aber die Antwort war eine einstimmige Verneinung.

Kaum war er aus der Tür, lugte die Brünette aus dem Badezimmer heraus. Sie drückte sich ein Taschentuch auf die blutende Wunde im Gesicht, als sie, gefolgt von Rin, wieder ins Zimmer trat. Die Blauhaarige hatte mal wieder ihre altbekannten gelben Augen und dazu eine dunkelblaue Kurzhaarfrisur. Mehr musste man nicht sehen, um zu wissen, dass sie erneut zum Jungen geworden war.

„Er wird gleich wiederkommen“, meinte Amika nur und gab ihrer Freundin damit zu verstehen, dass jetzt ihre Gelegenheit war, um sich schnell umzuziehen. Gesagt getan, schlüpfte Rin in einen ziemlich großen Kapuzenpullover und eine weite Hose. Die Kapuze ragte ihr dabei recht weit ins Gesicht, wodurch nicht nur ihre kurzen Haare verdeckt waren, sondern auch ihre stechenden Augen.

„Was machen wir denn jetzt?“, fragte frisch Umgezogene. Skye zuckte nur mit den Schultern: „Keine Ahnung. Wir bräuchten ein wenig Verbandsmaterial und Pflaster.“ „Aber wenn wir zur Krankenstation gehen und sagen, dass wir es für jemanden brauchen, werden wir sicherlich gefragt für wen und warum derjenige nicht einfach herkommt“, überlegte die Brünette. „Das ist generell nicht möglich. Ami wohnt hier nicht und dann kommen zu viele Fragen auf. Vor allem bei dieser riesigen Schramme in deinem Gesicht. Skye erstrecht nicht. Kuro ist sowieso bewusstlos und abgesehen davon sollte er in diesem Zustand nicht gesehen werden. Dann kommen erstrecht Fragen auf“, erklärte die Blauhaarige, „Und ich… Kann so auch nicht vor die Tür. Abgesehen davon gibt’s bei mir nicht mal irgendwas großartig zu verarzten. Ich bin einfach nur vollkommen ausgelaugt.“

Ratlos hockten sie herum und warteten bis Akira wieder da war. Dann wollten sie sich gemeinsam beraten wie es nun weitergehen sollte. Vor allem was den Bewusstlosen anbelangte.

Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis der Oberschüler mit einer prall gefüllten Einkaufstüte wieder da war. Außer Atem musste er sich erst mal hinsetzen und erklärte dann: „Lasst uns zurück in den Dungeon gehen.“

Irritierte Blicke trafen ihn, die fragten, ob er noch alle Latten am Zaun hatte. „Wir können kaum geradeausgucken. Warum sollten wir uns solch einer Gefahr aussetzen?“, jammerte Amika nur. „Ich hab unseren Proviant wieder aufgefüllt“, zeigte der junge Mann den Inhalt der Tüte, „Verbandszeug, Pflaster, Energydrinks, einfach alles was nützlich ist.“ „Ach jetzt verstehe ich!“, war die Brünette hellauf begeistert, „Da das Heilen im Dungeon mit einem Fingerschnippen passiert, gehen wir einfach zurück und verarzten uns dort. Dann sind wir wieder wie neugeboren.“

Akiras freudiges Grinsen bestätigte die Aussage und er war froh, dass ihm nun auch endlich etwas eingefallen war, um eine Hilfe sein zu können. Die Idee war wirklich nicht dumm und sehr naheliegend. Warum war da zuvor nicht schon jemand draufgekommen?

Gesagt getan, schnappte sich Akira seinen Kumpel, während die Mädchen sich gegenseitig ein wenig stützten. Rin konnte wirklich von Glück sprechen, dass ihr Freund alle Hände voll zu tun hatte und sie somit nicht enttarnen konnte.

Nach wenigen geschickten Handgriffen war die Truppe nun wieder am Eingang des Dungeon. Sie hofften, dass ihnen nun kein Shadow begegnen würde, solange sie nicht geheilt waren. Aber da sie in etwa wussten wo sich diese gerne tummelten, hielten sie sich einfach in einer versteckten Ecke verborgen.

Mit einem Zischen, öffnete Rin eine Dose des schwarz-blauen Energiedrinks, während Amika das knallpinke bevorzugte. Relativ synchron tranken sie davon und warteten auf den ersten langsamen Heilprozess. Derweil hatte sich auch Akira eine schwarz-rote Monsterdose geöffnet, während Skye den mit Espressogeschmack bevorzugte.

„Und? Fühlt ihr euch schon besser?“, fragte der Rothaarige vor allem an seine Freundin gerichtet, da es an ihrer Persona war, den Suzuki-Erben wieder zu heilen. „Hm komisch“, meinte die Brünette nur und lenkte somit die Aufmerksamkeit auf sich, „Siehst du das? Meine Wunde ist immer noch da.“ „Du hast recht“, meinte der junge Mann und kippte den Rest seines Getränkes in einem Stück in sich rein.

Kurz darauf stellte er fest, dass der Drink dieses Mal wirklich keinerlei heilende Wirkung erzielte.

„Und wenn wir nicht weit genug im Dungeon sind?“, suchte Amika eine passende Lösung. „Eigentlich macht das keinen Sinn“, schaltete sich nun auch Skye in das Gespräch ein, „Ich glaube nicht, dass wir eine heilende Wirkung erzielen können.“ „Wie meinst du das?“, verstand der Oberschüler nicht was der Jüngste damit sagen wollte. „Na ja, überlegt doch mal“, begann er seine Erklärung, „Wenn euch jetzt ein schrecklicher Unfall in eurer Welt passiert und ihr mit den Verletzungen in den Dungeon geht, um euch zu heilen, werdet ihr nicht geheilt, weil die Wunden nicht von Shadows stammen.“ „Ja, macht doch Sinn. Aber in unserem Fall sind die Verletzungen ja nicht aus unserer Zeit“, zuckte Amika mit den Schultern und verstand den Ansatz nicht. Einzig der Rotschopf verstand es und konnte einen passenden Vergleich ziehen: „Ach so, jetzt habe ich es verstanden. Das ist ein bisschen wie in einem Videospiel. Wir können nur die Verletzungen heilen, die im Dungeon entstanden sind. Wenn wir diesen verlassen und wieder eintreten, können wir die alten Wunden nicht heilen. Nur die neuen.“ „Ja, das ist jedenfalls meine Vermutung“, überlegte der Grundschüler. „Macht eigentlich Sinn“, war die Brünette ein wenig enttäuscht.

Auch ihrem Klassenkameraden konnte man die Enttäuschung richtig ansehen. Da dachte er, dass er endlich mal eine Hilfe war und dann das. Aber hätte er vorher noch mal etwas genauer überlegt, hätte er auch zu diesem Szenario kommen können. Sonst wäre es ja zum Beispiel auch möglich einen Krebskranken mitzunehmen und ihn gesund wieder zurückzubringen.

„Lasst uns gehen, bevor uns hier doch noch ein Gegner über den Weg läuft“, erklang eine ziemlich frustrierte Stimme, der der Rest wortlos folgte.

Rin hätte ihm sehr gerne Mut zugesprochen und ihm zur Seite gestanden, aber sie hatte Angst aufzufliegen, wenn sie ihm näherkommen würde. Besorgt starrte sie ihn an. Auch als sie wieder in ihrem Zimmer waren, konnte sie ihren Blick nicht von ihm nehmen. Er tat ihr unendlich leid. Gerade auch, weil sie wusste, dass er sich solche Vorwürfe machte, weil er als einziger keine Persona hatte und generell keine große Hilfe war. Sie hatte da ja erst drüber gesprochen. Und nun strengte er sich doppelt und dreifach an, um das Defizit wieder irgendwie auszubügeln.

„Geh ruhig nach Hause, Yoshida-kun“, meinte Amika plötzlich.

Aber Angesprochener war damit so gar nicht zufrieden. Er wollte sich noch um seinen Kumpel kümmern und sich vergewissern, dass es den Mädels soweit auch gutging. Da konnte er doch nicht einfach gehen.

„Nein, ich kann doch jetzt nicht heimgehen“, erwiderte der junge Mann, „Geh du ruhig heim, Shiori-chan. Du bist sicherlich müde.“ Diese schüttelte nur den Kopf: „Sind wir nicht alle ausgelaugt? Außerdem will ich mit diesen Verletzungen heute Abend nicht zu Hause aufschlagen. Ich bin zu müde, um mir Ausreden einfallen zu lassen. Rinacchi hat mir schon vorgeschlagen, dass ich heute hier übernachten kann.“ „Na gut“, gab dich der Rotschopf geschlagen, „Dann kümmere ich mich um Kuro und bringe ihn Heim.“ „Das halte ich nicht für sinnvoll“, mischte nun auch Skye mit und erklärte, dass der Suzuki-Erbe in diesem Zustand unter keinen Umständen gesehen werden sollte.

Nach einigen Diskussionen war dann endlich beschlossen, dass Akira als einziger den Heimweg antreten würde. Auch seine Vorschläge, dass er dann ebenfalls einfach im Wohnheim bleiben würde, wurden von Amika übertrumpft. Immerhin waren weder Platz noch ein sinnvoller Grund für diesen Anlass gegeben. Der Rothaarige war der Einzige, der aktuell noch vor die Tür konnte. Alle anderen mussten sich bedeckt halten. Zwar war seine Kleidung ein wenig ramponiert, aber das führte im Gegensatz zu den anderen sicherlich nicht zu neugierigen Fragen.

Nachdem der junge Mann dann endlich den Heimweg angetreten war, nahm Rin erleichtert die Kapuze ab. Schlussendlich hatte sie kein Wort mehr mit ihm geredet und fühlte sich dabei wirklich schlecht. Eigentlich wollte sie ihn nicht anlügen und ihm zur Seite stehen. Andererseits wollte sie aber auch auf keinen Fall, dass er diese gruselige Seite an ihr sah. Ihr Glück war wohl auch, dass der Rotschopf sie kaum angesehen hatte, seit sie wieder aus dem Dungeon zurück waren. Es war zwar merkwürdig, dass er den Blickkontakt mied, allerdings sehr hilfreich.

Die Einkaufstüte durchforstend, suchte sich die Brünette zuerst einmal ein großes Pflaster für ihre offene Wunde im Gesicht, ehe sie nach Verbandsmaterial für Kuro kramte. Der junge Mann hatte einige heftige Druckstellen an seinen Unterarmen, welche vermutlich den dicken Hagelbällen geschuldet waren. Da sollte besser ein schützender und stützender Verband her. Wie sich herausstellte hatte er auch eine kleine Platzwunde an der Stirn, um welche sich Rin mit einem Pflaster kümmerte. Kaum war er endlich fertig versorgt, wachte er auf und sah sich benebelt um.

„W-Wo bin ich?“, brachte er schwach heraus.

Die Mädels erklärten ihm kurz was geschehen war bevor sie ihn zwangen sich auf der Couch auszuruhen und erstmal zu schlafen. Weit würde er sowieso nicht kommen, das war klar. Skye wurde in dieser Nacht ebenfalls auf die gemütliche Sitzecke ausquartiert, während sich die beiden Oberschülerinnen das Bett teilten.

Der Dungeon war so anstrengend, dass sie alle sofort einschliefen und im Land der Träume versanken.


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