Kapitel 16 - Konfrontation


Sonntag, 19. April 2015

 

Es war früh am Morgen, als sich Akira auf dem Weg zu seinem besten Kumpel Kuro machte. Der Rotschopf hatte die vergangene Nacht kaum ein Auge zugetan, weil er sich um Rin sorgte. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, dass die anderen beiden Jungs so gefühlskalt mit ihr umsprangen. Zuerst knockte der Suzuki-Erbe das Mädchen im Dungeon aus, dann war es Skye, welcher die Blauhaarige handlungsunfähig machte. Zwar verstand der Mützenträger, dass sie das nicht taten um die Oberschülerin zu ärgern, eher im Gegenteil. Dennoch war er mit der Methode und der eisigen Gleichgültigkeit der beiden nicht einverstanden.

Seufzend kam er schließlich an der großen Villa an und wurde auch schon hereingebeten.

„Guten Morgen Yoshida-san“, wurde ihm die Tür von einem älteren Mann mit schwarzem Haar geöffnet.

Er trug vornehme Kleidung, welche in schwarzen Farben mit gelben Akzenten gehalten war. Außerdem zierte der Suzuki-Pin sein Jackett, welchen auch Rin bekommen hatte. Allerdings war dieser nicht bronzefarben, sondern in Silbertönen.

„Morgen, Joel. Du weißt doch, dass ich es nicht leiden kann, wenn du mich so förmlich ansprichst“, hatte der junge Mann einen gequälten Ausdruck im Gesicht, „Kannst du mich zu Kuro bringen?“ „Entschuldige bitte, Akira-san“, verbeugte sich der ältere Herr.

Sein Gegenüber hob jedoch nur eine Augenbraue und sah ihn genervt an. Der Butler des Hauses schien trotz allem die höfliche Anrede nicht komplett unter den Tisch fallenlassen zu können.

„Der junge Herr wünscht im Moment nicht gestört zu werden“, verweigerte der Schwarzhaarige die Bitte, „Wenn Sie möchten, dürfen Sie gerne so lange hier warten.“ „Es ist aber wirklich wichtig. Abgesehen davon bin ich genau deswegen gekommen, weswegen er nicht gestört werden darf“, stammelte der Oberschüler.

Schlussendlich bekam er seinen Willen und wurde vom Butler in die große Empfangshalle hereingebeten. Sie war wirklich prachtvoll und funkelte vor Sauberkeit. Ringsherum um den gewaltigen Saal waren Türen zu sehen. Wohin sie alle führten wusste selbst Akira nicht. Vielleicht wusste er es mal, aber das Haus war zu groß, um sich alles merken zu können, wenn man nicht all zu oft zu Besuch war. Mitten im Raum erstreckte sich eine breite Treppe, welche in den ersten Stock führte. Dort war rundherum ein Geländer angebracht, über welches man ins Erdgeschoss sehen konnte.

Der Rothaarige blieb aber unten und steuerte zielstrebig auf eine der rechten Türen zu. Nach kurzem Klopfen öffnete er sie und betrat den Raum. Es war ein großes Zimmer, welches chaotisch wirkte. Überall standen Aktenschränke und die Tische waren übersät mit Papierkram und all diesen Dinge, von denen der junge Mann lieber nichts Genaueres wissen wollte. Zwar standen auch Computer bereit, aber diese waren eher das Mittel zum Zweck und weniger zum Vergnügen gedacht. Ein richtiges Arbeitszimmer eben.

Sein Blick blieb aber schließlich an Kuro und Skye hängen, welche sich gegenüber an einem Schreibtisch saßen und geistesabwesend auf den blauen Brief starrten. Sie waren so konzentriert, dass sie nicht einmal bemerkt hatten, dass Besuch gekommen war.

Grade als Akira etwas sagen wollte, knallte plötzlich der Kopf des Kleinsten auf die Tischplatte auf. Von dem dumpfen Knall zuckte der Schwarzhaarige zusammen und sah zu ihm herüber.

„Aua…“, jammerte Erschöpfter und hob seinen Kopf wieder an.

Schmerzerfüllt hielt er sich die Stirn und hatte bereits eine winzige Träne im Auge.

„Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, dass du ins Bett gehen sollst, wenn du müde bist. Es ist bald wieder Tag. Du bist echt sturer als Rin“, meckerte der Suzuki-Erbe den Kleinsten nur an.

„Es ist bereits Tag“, räusperte sich der Rotschopf, „Wie wäre es, wenn ihr beide ins Bett geht?“

Überrascht, dass noch jemand im Raum war, schnellten die Blicke der beiden Sitzenden zu Akira. Es dauerte kurz bis sie realisiert hatten, wer da zu ihnen sprach.

„Akira? Seit wann bist du denn da?“, fiel der Schwarzhaarige aus allen Wolken. „Seit gerade eben“, bekam er als Antwort, „Habt ihr wirklich die ganze Nacht auf diese vier Zeilen gestarrt? Habt ihr wenigstens etwas herausgefunden?“

Zwei frustrierte Augenpaare trafen den Neugierigen, welche bereits Antwort genug waren. Sie waren wohl kein Stück weiter.

„Ich frage mich langsam ob wir zu vorschnell den Schwanz eingezogen haben“, hielt sich Kuro ernst die Hand ans Kinn, „Vielleicht stirbt unser Trottelchen ja gar nicht, sondern irgendwas anderes passiert. Irgendwas, das nicht so brutal und endgültig ist. Zwar auch unschön, aber nicht tödlich.“ „Verstehe“, kam der Mützenträger etwas näher heran. Der Jüngste hingegen schnaubte nur genervt: „Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber was soll denn dann passieren? Da steht: Der Weg deines Schicksals wankt. Wird sie vielleicht krank? Stirbt sie doch? Was ist gemeint? Welches Risiko gehen wir ein? Und wie zum Geier sollen wir es verhindern?“ „Ist es überhaupt richtig nicht mehr auf die andere Seite zu gehen? Verhindern wir es indem wir hierbleiben, oder indem wir gehen? Oder ist es gar nicht aufzuhalten?“, setzte Kuro all die offenen Fragen fort. Schweißperlen rannen Akira von der Stirn und er wich überfordert einen Schritt zurück: „Äh… Kann es sein, dass die ungelösten Fragen sich über Nacht vermehrt haben? Das ist ganz schön kompliziert.“

Entmutigtes Seufzen entwich den beiden Übermüdeten und ihre Köpfe sanken langsam zur Tischplatte. Zur Verwunderung des Übrigen sogar ziemlich synchron.

„Das bringt doch alles nichts. Geht sofort ins Bett. Alle beide“, sorgte sich der Rotschopf. Dieser bekam allerdings nur ein verneinendes Murren zur Antwort. „Ihr seid beide reif genug, um zu wissen, dass man in eurem Zustand sowieso nicht mehr vernünftig nachdenken kann. Jetzt steht gefälligst auf und schlaft eine Runde“, zerrte er bereits an ihnen.

Einsichtig erhoben sie sich und trotteten nach oben in den ersten Stock, gefolgt vom Rothaarigen. Dort bog Kuro zum Gästezimmer ab. Sein Kumpel schien etwas irritiert: „Wo gehst du hin? Dein Zimmer ist doch dort drüben?“ „Das ist besetzt“, gähnte der Schwarzhaarige herzhaft, ehe er mit dem Kleinsten im Raum verschwand.

Verwundert über seine Worte, blieb Akira allein im Flur zurück. Wie meinte er das denn? Wieso besetzt? Seine Frage klärte sich allerdings recht schnell auf, denn er konnte das Dienstmädchen fragen, welches vor dem Zimmer stand und Wache hielt. Sie trug ein schwarzes Maidkleidchen mit süßen Rüschen und gelben Akzenten. Dazu hatte auch sie einen Suzuki-Pin angesteckt. Ihre Haare waren schulterlang und rosafarben.

Kurz erklärte sie ihm, dass dieses Zimmer ausgewählt wurde, weil es im Vergleich zu den Gästezimmern ein integriertes Badezimmer hatte und das Türschloss schwerer zu knacken war.

„Shizuka, ich weiß, dass keiner rein oder raus soll, aber kannst du mich bitte reinlassen?“, schlug der Oberschüler seine Hände zusammen und verbeugte sich. Die junge Dame schien damit etwas überrumpelt und schreckte ein wenig zurück: „W-was? D-Das geht doch nicht. Der Befehl kam direkt vom jungen Herrn. Ich kann dich wirklich nicht durchlassen.“ „Ach, dann ist das doch gar kein Problem“, winkte der Rothaarige ab, „Ich nehme die Schuld auf mich, sollte etwas passieren.“

Noch eine kurze Weile musste er sie bearbeiten, ehe sie endlich nachgab. Wüsste sie nicht, dass Akira der beste Freund des Suzuki-Erbens war, hätte sie sich nicht breitschlagen lassen. Doch so konnte er sie erweichen.

Im Raum angekommen, verschloss das Dienstmädchen von außen sofort wieder das Türschloss. Der Hereingelassene sah sich derweil um. Zu seiner Rechten stand wie gewohnt das große Sofa mit Fernseher und allem Drum und Dran. Direkt daneben an der rechten Wandseite befanden sich zwei Türen, die, wie er wusste, zum Badezimmer und zu einem begehbaren Kleiderschrank führten. Im Anschluss stand das große Bett, neben welchem zwei Nachttische platziert waren. Zu seiner linken Seite erstreckte sich eine Fensterfront, welche auch an der anschließenden Wand geradeaus zu sehen war. Ansonsten wirkte der Raum völlig kahl und ungenutzt.

Im Bett bewegte sich plötzlich eine Gestalt. Keine geringere als Rin war es, die sich unruhig hin und her wälzte. Vorsichtig schritt der junge Mann aufs Bett zu und setzte dich auf dessen Kante. Behutsam rüttelte er dann an ihrer Schulter, um sie zu wecken: „Hattest du einen Alptraum?“ „Sie haben mich schon wieder schikaniert und sogar zusammengeschlagen“, murmelte das Mädchen verschlafen und blinzelte in den hell erleuchteten Raum.

Sichtlich irritiert über ihr Aussage schaute er sie an. Wieso träumte sie etwas Derartiges? Benebelt setzte sich die Schülerin im Bett auf und versuchte erstmal wachzuwerden, um zu realisieren wo sie sich befand. Ihre Haare waren völlig zerzaust und ihr Kopf brummte. Mühselig versuchte sie sich daran zu erinnern was passiert war und wo sie sich soeben befand. Als sie Akira endlich auf der Bettkante realisierte zuckte sie schreckhaft zusammen: „Wa- wie… Du hier? Wo bin ich?“ „Alle haben sich Sorgen um dich gemacht, deswegen wurdest du hergebracht“, bekam sie nur eine schwammige Antwort. „Sorgen?“, verzog die Blauhaarige das Gesicht, „Sag mir nicht, dass wir Ami noch immer nicht gerettet haben.“ Betroffen schaute der Rothaarige zur Seite: „Es ist einfach zu riskant. Deswegen haben wir beschlossen dich erstmal zu Kuro nach Hause zu bringen, bis wir wissen was uns erwartet.“

Wütend sprang die Oberschülerin daraufhin aus dem Bett: „Ihr habt das also beschlossen?! Mich fragt keiner oder was? Meine beste Freundin liegt im Koma und der einzige Weg sie zu retten liegt in unserer Hand. Wollt ihr sie einfach sterben lassen oder wie denkt ihr euch das?! Ihre Familie ist jeden Tag im Krankenhaus und sitzt weinend an ihrem Bett. Diesen Anblick ertrage ich langsam nicht mehr. Wenn ihr solche Angst habt, dann bleibt gefälligst hier, aber haltet mich nicht gegen meinen Willen auf!“ „Wir machen uns doch nur Sorgen um dich. Durch deine Gefühle bist du nicht mehr ganz klar. Alleine würdest du draufgehen“, versuchte er sie zur Vernunft zu bringen. „Erzähl mir doch keine Märchen“, verschränkte Rin die Arme, „Wann habt ihr zwei euch jemals um mich gesorgt? Im Grunde bin ich euch doch egal!“

Noch mitten im Satz steuerte sie die Türen neben dem Bett an, um festzustellen, dass dort kein Ausgang war. Akira stand derweil auf und versuchte hartnäckiger den Heißsporn wieder abzukühlen: „Du bist uns nicht egal. Nicht im Geringsten. Wir sind doch Freunde… Da macht man sich nun mal Gedanken um den anderen.“

Kurz stoppte das Mädchen in ihrem Tun und starrte den Rotschopf mit ungläubigem, gefühlskaltem Blick an. Scheinbar überlegte sie was sie mit dieser Aussage anfangen sollte, denn sie empfand sie mehr als eigenartig. Aus ihrem Blickwinkel sah das alles ganz anders aus.

Schnell schritt sie zur tatsächlichen Eingangstür und rüttelte an dieser. Allerdings war sie abgeschlossen und bewegte sich keinen Millimeter. Auch hämmern und lautes Rufen öffneten diese nicht, woraufhin sie sich fluchend umsah.

„Ich glaub ich habe da was verpasst. Seit wann sind wir Freunde? Kuro und du, ihr seid nur meine Sprungbretter. Glaub mir, ich hätte gerne auf euch verzichtet!“, schnauzte sie ihn ohne Rücksicht auf seine Gefühle an, „Wir sind ein Zusammenschluss von Menschen, die zufällig das gleiche Ziel verfolgen und sich gegenseitig von Nutzen sind.“

Erschrocken über ihre harten Worte starrte er sie nur sprachlos an, wie sie von Fenster zu Fenster wanderte und hinausschaute, als suchte sie etwas.

„Guck nicht so dumm“, warf sie ihm einen bösen Blick zu, „Ich habe viel zu lange geschwiegen. Deine scheinheilige Masche zieht nicht mehr! Beinahe hättest du mich damit sogar um den Finger gewickelt und mich die Schikanen von damals vergessen lassen. Du kannst mir nicht weismachen, du hättest all das vergessen!“

Noch immer brachte der junge Mann kein Wort heraus und schaute betroffen zu Boden. Er wusste genau was sie meinte. Genauso wie ihm klar war, dass sie jedes Recht hatte wütend auf ihn und Kuro zu sein. Eigentlich dachte er, er könnte einfach einen Neuanfang wagen, indem er Vergangenes unter den Teppich kehren würde. Seine Gleichung schien allerdings nicht so ganz aufzugehen. Ihm war klar, dass er nun den Tatsachen ins Auge sehen musste, weswegen er seinen Kopf wieder hob und gewillt war endlich etwas zu sagen.

Allerdings konnte er das nicht mehr, denn die Tatsache, dass Rin plötzlich eines der Fenster aufriss und blitzschnell auf die Fensterbank sprang, brachte ihn aus dem Konzept. Was hatte sie vor? Sie waren doch im ersten Stock!

Doch noch ehe der Oberschüler es schaffte darauf zu reagieren, war das Mädchen auch schon aus dem Fenster gesprungen. Panisch rannte Akira daraufhin zu diesem und schaute hinunter, ob es der Blauhaarigen gut ging. Sie war in einer Hecke gelandet und schien unversehrt zu sein. Doch was sollte er nun tun? Hinterherspringen würde er nicht so glimpflich überstehen wie die junge Sportlerin. Er musste auf normalem Weg aus dem Raum heraus und hinterher.

Lautstark hämmerte er mit den Fäusten gegen die Zimmertür: „Shizuka, mach schnell auf!“

Wie befohlen tat sie dies und der junge Mann stürmte regelrecht heraus, den Flur entlang bis zum Gästezimmer. Dort riss er ohne Vorwarnung die Tür auf: „Schnell! Sie ist aus dem Fenster gesprungen und abgehauen!“

Noch halb im Satz knallte er sie auch schon wieder zu, stürmte ins Erdgeschoss und raus aus dem Gebäude. Suchend sah er sich in dem gewaltigen Garten um, in welchem das Mädchen gelandet war. Das würde schwerer werden als eine Nadel im Heuhaufen zu finden. Zumal er nicht mal sicher sein konnte, ob sie noch da war, oder schon das Grundstück in eine andere Richtung verlassen hatte. Andererseits würde sie ohne den Portalschlüssel sowieso nicht weit kommen, also vermutete Akira das Mädchen noch irgendwo in der Nähe. Vermutlich würde sie Skye aufsuchen, welcher das gute Stück derzeit besaß. Aber so oder so musste er sie aufspüren. Er wollte unbedingt mir ihr sprechen.

Es dauerte keine fünf Minuten, da hatten sich auch Kuro und Skye zu dem Suchenden gesellt und nach einer Erklärung verlangt.

„Wir haben keine Zeit für lange Erklärungen. Erstmal sollten wir sie finden“, war der Rothaarige panisch, „Ich muss unbedingt mir ihr sprechen!“

Ohne groß weiterzufragen nickte sein Kumpel einfach und setzte sich in Bewegung. Auch der Jüngste tat es ihm gleich, verwandelte sich jedoch in seine Vogelform, um von oben aus besser zu sehen.

 

Eine ganze Weile suchten sie nach der Ausreißerin, bis Skye sie schließlich in der letzten Ecke verloren rumirren sah. Es hatte beinahe den Anschein, als hätte sie ihre Orientierung verloren. Schnell konnte der Kleinste die jungen Männer zu ihr lotsen und sie umzingeln.

„Hier bist du also“, stellte der Suzuki-Erbe fest.

Erschrocken zuckte das Mädchen zusammen und setzte bereits zur Flucht an. Dieses Mal gelang ihr das aber nicht so leicht, denn während ihr die Jungs im Weg standen, schnitten ihr auch die Bäume und Sträucher den Fluchtweg ab.

Plötzlich wurde die Blauhaarige an den Armen gepackt und hochgezogen, sodass sie wenige Centimeter über dem Boden hing. Natürlich war es kein geringere als Kuro, der sich mal wieder der Hilfe der Natur bemächtigte.

„Hey! Was soll das?! Lasst mich sofort wieder runter!“, wurde sie erneut wütend. „Kann mir mal einer erklären was hier nun los ist?“, war auch der Schwarzhaarige sichtlich gereizt von der Verfolgungsjagt übers ganze Areal. „Es ist meine Schuld. Könnt ihr uns beide vielleicht einen Moment alleine lassen?“, stammelte Akira.

Etwas widerwillig taten Skye und Kuro ihm den Gefallen und entfernten sich etwas von den beiden.

„Es tut mir leid, ehrlich“, verbeugte sich der Rothaarige vor der Oberschülerin.

Eigentlich wollte diese direkt wieder ausflippen, war jedoch von der Entschuldigung überrumpelt. Das hatte sie nicht kommen sehen.

„Bitte höre mich an. Ich möchte mit dir reden und erklären was in mir vorgeht. Wieso all das in der Vergangenheit geschehen ist und warum ich dich zu Beginn des zweiten Oberschuljahres angelogen habe. Natürlich kannte ich dich. Da habe ich mich nur dumm gestellt“, sah der junge Mann betroffen zur Seite.

„Was soll es denn da noch zu erklären geben? Kaum war Shû-chan weggezogen hast du mich zusammen mit Kuro zum Narren gehalten! Tagein tagaus habt ihr eure Späße mit mir getrieben und mich beleidigt oder ausgelacht. Ihr habt mich angerempelt, dass ich Treppen runtergestürzt bin, mich in Schneeberge geschubst, mir im Sport Bälle an den Kopf geworfen, meine Schulsachen versteckt und einmal sogar meine Schuhe aus dem Fenster geworfen! Der Gipfel war dieser gefakte Liebesbrief! Soll ich noch mehr aufzählen?“, zappelte Rin wie wild herum, „Und warum werde ich hier nun festgebunden? Was habe ich denn verbrochen?!“

Ihre Stimme bebte und sie musste sich wirklich zusammenreißen, um nicht vor Wut zu weinen. Sie konnte nicht verstehen, warum sie schon wieder so in die Enge getrieben und von den beiden so schlecht behandelt wurde. Auch verstand sie nicht was in letzter Zeit abging, denn Akira war ungewöhnlich nett zu ihr. Einzig der Schwarzhaarige war noch immer ein Arsch, was eigenartigerweise der Rest der Welt nicht so zu empfinden schien.

Durch die Voraugenführung seiner vergangenen Missetaten, wich der Mützenträger einen Schritt zurück. Er wusste zwar ganz genau was er in der Vergangenheit getan hatte, jedoch ließ ihn die Aufzählung einiger seiner Taten schwer schlucken. Ein dicker Kloß bildete sich in seinem Hals und Unbehagen machte sich weiter in ihm breit. Mittlerweile hatte er das Gefühl, dass die Worte, die er der Schülerin sagen wollte nur Ausreden waren. Eigentlich konnte er das was er ihr angetan hatte nie wiedergutmachen. Am liebsten wäre er sofort weggerannt, um dieser Situation zu entgehen. Aber jetzt hatte er endlich die Chance sich richtig zu entschuldigen und Reue zu zeigen. Er wollte sich doch um jeden Preis mit ihr vertragen.

„Es tut mir wirklich leid, dass du festgebunden wurdest. Aber hätte Kuro das nicht getan, wärst du wieder weggelaufen. Das kannst du nun wirklich nicht leugnen. Ich möchte nur, dass du mich kurz anhörst. Dann kannst du selbst entscheiden, ob du gehst oder bleibst“, meinte Akira ruhig.

Beleidigt blähte die Blauhaarige daraufhin ihre Wangen auf und starrte wortlos zur Seite. Wie es aussah akzeptierte sie es und wartete darauf, dass ihr Gegenüber endlich sagte was er loswerden wollte.

„Ich war damals wirklich dumm und unbeholfen. Es fiel mir außerordentlich schwer neue Freunde zu finden. Schon in der Grundschule wurde ich auf dich aufmerksam und wusste nie wie ich dich ansprechen sollte. Mir gefiel deine befreite und unbeschwerte Art. Du warst immer irgendwie am Lachen und hast die Leute in deinem Umfeld damit angesteckt. Oft hast du auch mal über die Stränge geschlagen und wurdest dann gerügt. Das war echt witzig“, musste er unweigerlich Schmunzeln, „Am meisten habe ich dich beim Sport bewundert. Da warst du schon immer so wahnsinnig talentiert und wirktest wie jemand, der einfach alles schaffen konnte. Im Unterricht hingegen warst du die komplette Niete. Der Kontrast war wirklich amüsant.“ „Komm endlich zum Punkt und hör auf mich eine Niete zu nennen!“, schnauzte Rin ihn gereizt an. „Sorry“, kratzte er sich am Hinterkopf, „In der Mittelschule beschloss ich dann endlich, dass ich dich auf mich aufmerksam machen musste. Irgendwie nahmst du mich zuvor nie wahr. Als wäre ich Luft gewesen.“

Stirnrunzelnd betrachtete das Mädchen ihn, wie er versuchte die richtigen Worte zu finden. Was genau wollte er ihr vermitteln? Etwa, dass er sie mobbte, weil er ihre Art nicht ertragen konnte?

„Na ja, unbeholfen wie ich war, kam ich nicht auf die Idee dich einfach anzusprechen. Deswegen versuchte ich durch kleine Streiche deine Aufmerksamkeit zu gewinnen. Ich dachte die ganze Zeit du fändest das auch witzig und habe deine Reaktionen falsch gedeutet. Das war einfach alles total kindisch was ich da abgezogen habe. Aber das habe ich zu spät realisiert. In dem Jahr in dem du nicht da warst, habe ich erst bemerkt wie fies ich eigentlich zu dir war und wie sehr ich dich damit verletzt habe“, machte er eine kurze Pause, „Es tut mir wirklich aufrichtig leid.“

Daraufhin verbeugte er sich tief: „Ich erwarte nicht, dass du mir je vergibst. Da kann ich dich natürlich voll und ganz verstehen. Aber wenn es irgendetwas gibt was ich tun kann, dass du deine Meinung änderst, dann sag es mir. Ich tue alles.“

„Du willst mich verarschen oder?!“, fluchte Rin und strampelte wütend wie wild herum, „Was soll das denn für eine dumme Ausrede sein?! Du hast mich jahrelang gemobbt, weil du Aufmerksamkeit wolltest?! Das ich nicht lache! Dir ist schon klar, was du und Kuro alles angestellt habt oder?“ „Mir ist das durchaus klar und im Nachhinein auch ungeheuer peinlich. Allerdings trifft Kuro da jetzt keine so große Schuld. Er hatte eigentlich nur das freche und beleidigend ehrliche Mundwerk. Alles andere ging von mir aus“, verteidigte er seinen besten Kumpel.

Auf diese Aussage hin musste die Blauhaarige wirklich scharf nachdenken. Sie hatte die Taten als Schikanen von beiden eingeordnet, weil sie sowieso immer zusammen herumhingen. Aber je mehr sie darüber nachdachte, umso mehr fiel ihr auf, dass er recht zu haben schien. Kuro beleidigte sie zwar ziemlich häufig und lachte sie immer zu aus, aber alle anderen Taten gingen tatsächlich nur von Akira aus. Wieso nur empfand sie dann den Schwarzhaarigen teilweise noch gemeiner als ihr derzeitiges Gegenüber? Aber nichtsdestotrotz hingen dennoch beide in der Sache mit drin und so wirklich vergeben konnte sie Akira nicht. Auch wenn er den Mumm hatte sich aufrichtig zu entschuldigen, so war sie noch immer tierisch wütend auf ihn.

„Ich kann es einfach nicht fassen, dass du mit einer dummen Entschuldigung angekrochen kommst. Erinnerst du dich noch daran was du am letzten Mittelschultag angestellt hast? Das war wirklich der Höhepunkt!“, war sie noch immer fassungslos. „Ja“, nickte er kurz, „Das weiß ich noch. Auch das tut mir unwahrscheinlich leid.“

Daraufhin schaute er in eine andere Richtung, während die Blauhaarige zornig fauchte: „In meinem Schuhfach lag morgens ein Liebesbrief. In dem stand unter anderem, dass ich nach dem Unterricht zu einem bestimmten Ort kommen soll, wenn ich wissen will wer den Brief verfasst hatte. Als ich da ankam standst du da rum und hast auf mich gewartet, nur um mir zu sagen, dass du mich verarscht hast!“

Kurzes Schweigen brach aus, in dem das Mädchen sauer zu ihrem Gegenüber sah. In der Hoffnung er würde endlich seinen Kopf heben und sie mal direkt ansehen. In der ganzen Zeit hatte er es nicht einmal geschafft Rin in die Augen zu sehen. Immer nur starrte er betroffen zur Seite oder auf den Boden, als wolle er ihr ausweichen.

„Also… Das war so…“, begann der junge Mann. „Gibt es jetzt wieder eine dumme Ausrede? Wie kann man sich denn aus so etwas noch herausreden?!“, wütete sie noch immer, „Ich hatte mir den ganzen Tag Gedanken gemacht und freute mich wahnsinnig, dass es jemanden gab, der mich wirklich mochte. Dann habe ich die ganze Zeit rumüberlegt wie ich das am besten anstelle der Person zu sagen, dass ich nicht mit ihr zusammen sein kann, weil ich ins Ausland gehen würde. Zu glauben, dass irgendwer warten würde, wäre ziemlich dämlich. Allerdings wars ja auch schon dämlich genug von mir zu glauben, dass es jemanden gab, der sich in mich verliebt haben könnte. Und ich dumme Kuh freue mich auch noch wie der letzte Volltrottel! Dann stehst du da und sagst du hast mich verarscht! Dir kam doch niemals in den Sinn auch nur einmal an meine Gefühle zu denken!“

Dieses Mal kullerten ihr vor Wut die Tränen wasserfallartig die Wangen hinunter. Sie konnte sie einfach nicht mehr zurückhalten und schluchzte laut. Erneut brach eine peinliche Stille heran, in der nur das Schniefen der Schülerin zu hören war. Akira wusste einfach nicht mehr was er noch tun sollte. Rin hatte vollkommen recht mit allem was sie sagte. Egal was er jetzt noch erwidern würde, es würde sowieso nichts bringen.

Plötzlich ertönte ein Rascheln in einem der Büsche und Kuro trat in Erscheinung. Er versteckte sich scheinbar die ganze Zeit dort und hatte die beiden belauscht.

Selbstsicher schritt er auf das noch immer gefesselte Mädchen und schnipste ihr mit seinem Finger gegen die Stirn: „Du denkst echt nur an dich, oder?“ „Aua! Was soll das denn heißen?! An wen denn sonst? Er war es doch, der mich durchweg schikaniert hat. Und du warst genauso wenig unschuldig!“, keifte sie den Suzuki-Erben an. Dieser starrte Rin ernst ins Gesicht und zeigte währenddessen mit dem Finger auf seinen besten Kumpel: „Findest du es in Ordnung ihn jetzt so runterzubuttern? Dafür, dass er es eigentlich nie wirklich böse mit dir meinte? Nicht nur du hast Gefühle. Der Kerl ist einfach nur ein riesiger unbeholfener Trottel. An dem Tag an dem er auf dich wartete wegen dem Brief zog er einfach nur den Schwanz ein. Das hat er bis heute zutiefst bereut. Und damit ging er mir echt noch lange auf den Sack.“

Geschockt starrte die Blauhaarige Kuro mit weit aufgerissenen Augen an. Sie musste kurz verarbeiten was sie soeben hörte. Hatte sie irgendwo einen Denkfehler, oder versuchte der Schwarzhaarige ihr gerade das mitzuteilen, was sie verstand? Das konnte unmöglich sein. Nie und nimmer.

„Akira!“, wandte sich sein Kumpel mit strengem Ton an ihn, „Jetzt mach schon.“

Völlig überfordert wanderte der Blick des Rotschopfes nervös hin und her. Zudem wich er erneut einen Schritt zurück und wüsste es der Suzuki-Erbe nicht besser, so sah es aus, als würde er gleich wegrennen wollen. Dies wusste er aber zu verhindern, indem er sich hinter ihn stellte, an den Schultern packte und näher zur Blauhaarigen schob. Diese sah die beiden jungen Männer nur verwirrt an. Was geschah hier nur?

Noch immer starrte Akira zur Seite und konnte das Mädchen nicht anschauen. Nervös kaute er dabei auf seiner Oberlippe herum.

„Akira!“, kam es mit strengem Ton aus dem Schwarzhaarigen.

Benannter zuckte betroffen zusammen und zitterte am ganzen Leib: „I-ich… A-Also… Das ist kein guter Zeitpunkt.“ „Das ist ein perfekter Zeitpunkt“, wurde er von Kuro gedrängt.

In den nächsten Sekunden verstrich eine gefühlte Ewigkeit, bis der Rothaarige endlich seinen Kopf hob und der Oberschülerin tatsächlich ins Gesicht sah. Mit ernstem und zugleich reuevollem Blick starrte er sie förmlich an.

„Aikawa-chan“, begann er und sie zuckte unweigerlich zusammen. Ihr schien die plötzliche Konfrontation ziemlich unangenehm zu sein. Doch entkommen konnte sie leider nicht. Genauso wenig wie ihr Gegenüber.

Erneut holte Akira tief Luft und schien all seinen Mut zusammenzunehmen: „I-Ich wollte dich wirklich nie böswillig verletzen. Das alles tat ich nur um deine Aufmerksamkeit zu bekommen und dir näherzukommen. Ich wusste, dass du ins Ausland gehen würdest, deswegen wollte ich dir zum Abschluss meine Gefühle gestehen. Ich liebe dich. Heute genauso wie damals.“

Völlig überrumpelt und definitiv überfordert mit der Situation starrte Rin mit weit aufgerissenen Augen ungläubig in die Leere. Hatte er das grade wirklich gesagt?

Noch im selben Moment lies Kuro seinen Kumpel los und befreite die Blauhaarige mit einer Handbewegung. Während in einer Baumkrone ein lautes ungläubiges „WAS?!“ ertönte, ergriff der Rothaarige die Flucht. Zeitgleich plumpste das Mädchen auf ihren Hintern, da ihre Beine zu zittrig waren, um sie zu halten, als Skye mit lautem Rascheln aus dem Baum fiel und in einem Busch landete. Für einen Moment hätte die Schülerin schwören können einen blauen Schmetterling um den davonrennenden Akira kreisen zu sehen, war sich aber unsicher, ob es nicht doch eine Halluzination war.

Auch der Schwarzhaarige setzte sich schließlich geschafft auf den Boden: „Ich verstehe es immer noch nicht. Was war denn da vorhin passiert, dass ihr plötzlich auf dieses Thema zu sprechen kamt?“ Rins motzige Antwort darauf fiel jedoch eher nichtssagend aus: „Ihr gebt mir gefälligst meinen Schlüssel wieder. Ich gehe heute noch Ami retten und das notfalls auch allein. Auf dieses irreführende Stück Papier pfeif ich.“


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